Zeit für Shakespeare in King's Cross? Ein Bahnhofsviertel, in dem seine Sonette rezitiert werden, kann nur liebenswert sein.

Foto: London On View

Wie schaut das Vorzimmer zur Hölle aus? Für das britische Magazin Gentlemen's Quarterly war der Fall klar: Es müsse so aussehen wie die Gegend rund um den Londoner Bahnhof King's Cross. Das King's Cross von früher, wohlgemerkt. Jener Rotlichtbezirk, den man vorfand, wenn man noch vor zehn Jahren hierherkam. Ein Viertel, das nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend verkam, und schon davor, als der Bahnhof 1852 eröffnet wurde, alles andere als ein Wohlfühlpflaster war.

Wer bis vor wenigen Jahren die King's Cross Station betrat, musste seine Tasche festhalten. Die Londoner selbst mieden diese Gegend und nutzten King's Cross lediglich als U-Bahn-Drehscheibe, an der man oberirdisch gar nicht auftauchen wollte. Touristen, die sich dennoch hier einquartierten, kamen nicht wegen der Lage, sondern nur wegen des Preises.

2014 tauchen sie alle gerne hier auf: Geschäftsleute schreiten über den neuen Vorplatz, der zweimal so groß ist wie der Leicester Square; um den Battle Bridge Place und am Granary Square sind viele kleine Kulturinstitutionen eingezogen; Studenten des benachbarten Design-College stehen um Coffee to go an; Angestellte eilen mit ihrem Lunch zum Regent's Canal, um Frischluft zu tanken. Und junge Musiker vom European Classical Acting Drama Centre nutzten die King's Cross Station erst unlängst, um Reisende mit Shakespeare-Sonetten zu erfreuen.

Harry-Potter-Bahnhöfe

Für Touristen ist der Bahnhof zur Sehenswürdigkeit geworden: Sie staunen nicht schlecht über den Western Concourse, eine freitragende Dachkonstruktion zwischen King's Cross und dem Nachbarbahnhof St Pancras. Das gläserne Dach stellt sogar die freigelegte viktorianische Fassade des Bahnhofs King's Cross in den Schatten. Fans von Harry Potter kommen scharenweise her, weil das Grätzel Filmdrehort war.

Wenn sich Menschen ausgerechnet ein Bahnhofsviertel aussuchen, um dort ihre Freizeit zu verbringen, ist das wohl ein Beleg dafür, dass die Wiederbelebung gelungen ist. Die Stadt London hat Milliarden in die Regenerierung des nördlichen Bezirks investiert, Bürgermeister Boris Johnson tituliert die beiden Bahnhöfe großspurig als "Zwillingsjuwelen".

Mitverantwortlich für diesen Aufschwung ist der Eurostar, der London mit Paris und Brüssel verbindet. Mehr als 140 Millionen Passagiere sind in den vergangenen 20 Jahren mit dem Hochgeschwindigkeitszug unter dem Ärmelkanal gereist. Bei der Jungfernfahrt am 6. Mai 1994 fuhr die Queen noch von der Waterloo Station ab, seit 2007 rollen die gelb-blau-weißen Züge im – nur für sie renovierten – St Pancras International ein und aus. Doch es ist keine Selbstverständlichkeit, hier anzukommen. In den 1960er-Jahren konnte St Pancras gerade noch vor dem Abriss bewahrt werden. Heute steht der Bahnhof wie King's Cross unter Denkmalschutz – in derselben Kategorie wie die Canterbury Cathedral.

Verliebte Zugbegleiter

Zum Wahrzeichen dieses Bahnhofs ist der Treffpunkt unter der Bahnhofsuhr geworden – die große Statue eines küssenden Pärchens von Künstler Paul Day steht an diesem Platz. Zu Beginn des Eurostar-Jubiläumsjahrs wurden die Verliebten mit der neuen Uniform der Zugbegleiter eingekleidet, fast 100 Meter Stoff kamen zum Einsatz. Reisende und Locals verabreden sich in den untypischen Bahnhofslokalen: in der längsten Champagner-Bar Europas, in kleinen Patisserien oder in einem Biomarkt. Mit Reiseproviantständen vergangener Tage hat das nur mehr wenig gemein.

Draußen finden Besucher ein selbstbewusstes Stück London vor, das sich noch laufend wandelt. Neue Gebäude entstehen auf 27 Hektar, die bisher Brachland waren. Der Guardian hat seine Redaktion bereits hierher verlagert, Google UK wird 2016 im Viertel ansässig werden. Hotelketten der mittleren Preisklasse kaufen sich ein, bestehende Luxushotels wie das Great Northern Hotel und das St Pancras Renaissance Hotel wurden aufwändig renoviert.

Die Häuser rüsten sich für immer mehr Zugreisende, die sich gleich in King's Cross einquartieren. Seit Anfang 2014 gibt es auch Eurostar-Tickets für Fahrgäste, die mit dem ICE aus Deutschland über Brüssel kommen. Und ab 2016 soll eine direkte Verbindung London – Amsterdam existieren. (Emily Walton, Album, DER STANDARD, 18.4.2014)