Die Ereignisse des letzten Halbjahres in der Ukraine erinnern an die Selbstzerfleischung eines traumatisierten oder unter schweren Depressionen leidenden Patienten. Der selbstzerstörerische Prozess hat bereits die Amputation der Krim bewirkt, nun droht auch noch der Verlust der Ost- und Südostukraine; ja möglicherweise der gesamten Eigenstaatlichkeit des Landes.

Äußere Kräfte sind an diesem Zersetzungsprozess nicht unschuldig. Seit Jahren versuchen Ost und West, die Politik des 50-Millionen-Einwohner-Staates zu manipulieren. Als der Kreml fürchten musste, dass mit der Flucht Wiktor Janukowitschs sein Einfluss auf die Ukraine schwindet, griff er, unter Verweis auf eigene Sicherheitsinteressen und die Schwäche des Nachbarn ausnutzend, zur Krim.

Einiges deutet darauf hin, dass das Donezbecken bald folgen könnte. Dazu ist nicht einmal eine offene Militärintervention nötig. Übergangspräsident Alexander Turtschinow klagte beim Besuch von US-Vizepräsident Joe Biden, Russland halte sich nicht an die Abmachungen von Genf und seine "terroristischen Sondereinheiten" seien auf dem Gebiet der Ukraine aktiv. Anzeichen für die russische Präsenz in der Ostukraine gibt es, eindeutige Beweise bisher aber nicht.

Viel wichtiger aber ist, dass die Menschen in der Ostukraine die russische Perspektive tatsächlich lockt: Das ist verständlich. Russland ist reich und stabil, die bettelarme Ukraine hingegen droht im Revolutionschaos zu versinken. Gerade in unsicheren Krisenzeiten wohnt die Sehnsucht nach einer "harten Hand", die Putin verkörpert, vielen Menschen inne. Diese Menschen wegen ihrer Angst zu bestrafen kann nicht die Lösung des Problems sein.

Wer die Menschen von Demokratie überzeugen will, darf nicht Panzer gegen sie auffahren, so wie das die Führung in Kiew in der vergangenen Woche gegen den Aufstand im Osten probierte. Wer die Einheit in der Ukraine bewahren will, muss Partner suchen und darf das Land nicht durch die Diskriminierung von Sprachen und nationalistische Parolen spalten.

Noch ist es dafür nicht zu spät. Bei weitem nicht alle Ostukrainer wollen sich unter die russische Flagge stellen. Was sie wollen, ist eine reale Mitbestimmung und eine Perspektive. Eine Dezentralisierung der Macht mit Gouverneurswahlen und regionaler Autonomie ist dafür unabdinglich. Die von den Aufständischen geforderte Föderalisierung der Ukraine ist also eine Diskussion wert, wobei die Außenpolitik aber Kiews Vorrecht bleiben muss, da sonst die Regionen noch weiter auseinanderdriften.

Die Ukraine muss ihren Bewohnern aber auch - trotz der bevorstehenden schmerzhaften Wirtschaftsreformen - eine soziale und wirtschaftliche Perspektive bieten. Das kann Kiew nicht allein. Und hier müssen Europa und die USA - wenn sie an einer Ukraine mit westlichen Werten interessiert sind - helfen; finanziell und bei der Bekämpfung der Korruption. Der Sturz Janukowitschs darf nicht in der Herrschaft einer neuen Oligarchenclique enden.

Billig ist das nicht. Aber die Aufwendungen sind effektiver als die Kosten von Sanktionen gegen Russland. Zumal das dahinterstehende Motiv einer Bestrafung gerade so kurz nach Ostern gar nicht in das Bild christlicher Nächstenliebe passt. Andererseits: Für Putins Führungsanspruch im exsowjetischen Raum wäre eine mithilfe des Westens florierende Ukraine ein viel härterer Schlag als alle Sanktionen. (André Ballin, DER STANDARD, 23.4.2014)