Literarische Aufarbeitungen der eigenen Familie scheinen nicht aus der Mode zu kommen. Es verwundert nicht. Die Extreme des 20. Jahrhunderts haben in jeder Familie Spuren hinterlassen; und so ist es immer wieder spannend, innerhalb der bekannten historischen Eckdaten und Ereignisse den persönlichen Mikrokosmos von Einzelschicksalen zu erfahren. Sei es beim Bayern Josef Bierbichler in Mittelreich, bei der Kärntner Slowenin Maja Haderlap (Engel des Vergessens) oder auch in der Familiensaga der afroamerikanischen Autorin Taiye Selasi (Diese Dinge geschehen nicht einfach so). Nun hat der bekannte Journalist Fritz Dittlbacher, promovierter Historiker und Chefredakteur der ORF-TV-Information, in der Historie seiner Ahnen gestöbert und nähert sich ihnen auf fiktivem Weg in dem Roman Kleine Zeiten.

Das Buch ist mit dem Untertitel Die Geschichte meiner Großmutter versehen. Grete ist die zentrale Figur. Sie begegnet schon auf dem schwarz-weißen Titelfoto, neben ihr das Enkerl Fritz, gegen die Sonne schauend. Das Bild ist vielleicht in der Neuen Heimat aufgenommen worden - so nannte man jene Häuser aus der Hitlerzeit in Kirchdorf an der Krems, wo Grete seit den 1970er-Jahren lebte. Da war sie Sekretärin im SPÖ-Bezirksrat. Jahre zuvor, während der Nazizeit, war ihr Politik weniger wichtig. Im Rückblick: "Es kann doch nicht alles falsch gewesen sein, woran sie so lange geglaubt hat."

2011 betritt der 1963 geborene Dittlbacher, nein, jetzt ist es das Erzähler-Ich, letztmalig ebenjene Wohnung seiner unheilbar an Leberzirrhose erkrankten Großmutter; er sammelt Aufzeichnungen und Bilder - und führt im ersten der 15 Kapitel ins Jahr 1917. Damals erleidet Oberleutnant Otto Wernitznigg, der Urgroßvater, während der zwölften Isonzoschlacht einen Lungendurchschuss. Er kommt zur Rehabilitation ins oberösterreichische Sierning, wo er sozialistische Arbeitertreffen besucht und seiner ersten Frau Maria, einer Bäckerstochter, begegnet, die ein Mädchen zur Welt bringt, Grete. Die Beziehung hält nicht; Maria verschwindet spurlos, Otto geht nach Graz zurück, wo er einer deutschnational gesinnten Lehrerfamilie entstammt. Hervorzuheben ist die Darstellung der Maria, deren Leben als herrische Mutter, zwielichtige Gastwirtin und KZ-Überlebende allein einen Roman wert wäre. Überhaupt sind die Frauen in dieser Familie die Überlebenskünstlerinnen, ihre Männer hingegen wirken zumeist antriebslos oder egoistisch. Dittlbacher verzichtet in Kleine Zeiten auf anekdotische Aneinanderreihung und sentimentale Rückschau. Er verfällt auch nicht in einen Berichterstattungston, sondern nimmt scheinbar unbedeutende Situationen zum Ausgangspunkt, um das Leben verliebter, verzweifelter, hoffnungsvoller Menschen zu zeigen. (Sebastian Gilli, Album, DER STANDARD, 26./27.4.2014)