Bild nicht mehr verfügbar.

Entsetzte Angehörige reagieren auf die von einem Gericht in Minya ausgesprochenen Todesurteile.

Foto: APA/EPA/Elfiqi

Kairo/Wien - Das Frappierende ist, so zitiert die New York Times am Dienstag Michelle Dunne vom Carnegie Endowment for International Peace in Washington, dass das Gericht im ägyptischen Minya sich nicht einmal die Mühe macht, plausible Fälle zu konstruieren. 683 Todesurteile wurden dort am Montag gegen Muslimbrüder ausgesprochen, unter anderem gegen deren spirituellen Führer Mohammed Badie, der nicht nur der Chef der ägyptischen Muslimbrüder, sondern aller weltweit ist (Zweige in anderen Ländern haben nur einen "Superintendenten").

Verhandelt wurde die Attacke auf eine Polizeistation in Adawa bei Minya, bei der ein Polizist getötet wurde. Badie war an jenem Tag im August 2013 in Kairo (und nicht in Adawa), und er war auch keiner jener - zweifellos existierenden - Muslimbrüder, die zu Gewalt aufriefen. Von ihm stammt der Slogan "Unsere Friedfertigkeit ist stärker als Kugeln".

Keine "voreiligen Schlüsse"

Ägyptens Außenminister Nabil Fahmy hält sich momentan in den USA auf, im Center für Strategic and International Studies in Washington warnte er vor "voreiligen Schlüssen". Es ist richtig, dass erstens, wie schon bei dem ersten Massenurteil vor ein paar Wochen, die meisten Angeklagten nicht einmal anwesend waren, und zweitens, die Urteile einer Revision kaum standhalten werden. Die Sache ist tatsächlich so absurd, dass unter Ägyptern bereits die These aufgetreten ist, dass der Richter ein Kryptomuslimbruder sei, der der neuen ägyptischen Führung schaden wolle.

Das tun die Urteile ganz ohne Zweifel - nicht nur das internationale Ansehen Ägyptens betreffend, sondern auch intern. Auch wenn die gewünschte Ruhe im Land einkehren sollte, so wird sie mit einer Radikalisierung auf der anderen Seite einhergehen.

Dennoch gibt es gewisse Hinweise, dass die staatlichen Muslimbrüder-Gegner in Ägypten und anderswo erstmals auch wieder Muslimbrüder-Organisationen zu kooptieren versuchen - und manche dem Druck nachgeben könnten. Dazu gehört, dass die palästinensische Hamas sich prinzipiell zu einer Versöhnung mit der Fatah bereit erklärt, ohne Vorleistungen geboten zu haben. Ägypten sitzt der Hamas stark im Nacken, hat die Organisation vor kurzem verboten und hält den Gazastreifen abgeriegelt. Dennoch steht Kairo zur innerpalästinensischen Annäherung. Bewegung gibt es auch bei jordanischen Muslimbrüdern, und der syrische Muslimbrüder-Vizechef Mohammed Faruk Tayfur soll Saudi-Arabien besuchen - wo die Bruderschaft besonders verhasst ist.

Aber auch wenn es vor allem Taktik sein sollte, unter den Muslimbrüdern und ihren Anhängern Angst und Schrecken zu säen, so ist damit nicht ausgeschlossen, dass mit einigen Todesurteilen ernst gemacht werden könnte. Wenn der Fall Badie wegen des Vorfalls in Adawa wohl vor keinem ordentlichen Gericht bestehen dürfte, so sind andere Anklagen gegen Muslimbrüderschaftkader gefährlicher. Sie haben mit Staatssicherheit, Hochverrat, Spionage und Kooperation mit ausländischen Gruppen - eben der Hamas - zu tun.

In diesem Dunstkreis ist auch die Jugendbewegung des 6. April gelandet, die aus dem linken Spektrum stammt (am 6. April 2008 streikten die Arbeiter in den Textilfabriken von al-Mahalla al-Kubra). Dass sie wegen staatsfeindlicher Aktivitäten mit Hilfe des Auslands verurteilt wurde, ist nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen der neuen Ordnung und ihren Opponenten. Es ist auch ein weiteres Stück Revisionismus der Geschichte der Revolution 2011. Am Ende wird nur mehr von ihr übrig bleiben, was der koptische Papst Tawadros sagt: Es war eine Verschwörung des Auslands gegen die Araber. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 30.4.2014)