STANDARD: Starten wir gleich mit der indirekt wichtigsten Frage dieser EU-Wahl: Wer wird der nächste Präsident der EU-Kommission?

Guy Verhofstadt: Es wird derjenige sein, der in der Lage ist, im Europäischen Parlament eine Mehrheit der Mandate hinter sich zu versammeln. Und er muss Spitzenkandidat bei den Wahlen gewesen sein.

STANDARD: Also nur Martin Schulz, Jean-Claude Juncker oder Sie. Wird es nicht automatisch der, dessen Parteienfamilie die Wahl gewinnt, also realistischerweise Schulz oder Juncker?

Verhofstadt: Der Wahlsieger wird als Erster das Recht haben, eine solche Mehrheit zu bilden. Das ist eine Vereinbarung, die die Parteien, die Fraktionen im Parlament getroffen haben. Wir haben Regeln vereinbart, die zur Anwendung kommen müssen. Die Regeln sind: Es wird nur jemand Kommissionspräsident, der sich auch bei den Wahlen gestellt hat. Wenn das nicht so wäre, können wir das Parlament hier gleich zusperren. Sonst wäre der Wahlkampf ja nur ein belangloses Spiel.

STANDARD: Was ist noch vereinbart?

Verhofstadt: Der Kandidat muss zweitens fähig sein, ein Programm zu formulieren und dafür im EU-Parlament eine Mehrheit zu finden. Drittens: Der Wahlsieger fängt damit an. So ist ja auch das Procedere in jeder ordentlichen parlamentarischen Demokratie.

Will Kommissionspräsident werden: Guy Verhofstadt.
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STANDARD: Solche Regierungsverhandlungen dauern meist sehr lange. Sie waren neun Jahre lang Regierungschef Belgiens – dort dauerte es nach den Wahlen 2010 fast eineinhalb Jahre, bis eine neue Koalition gefunden war. Worauf müssen wir uns in Europa also einstellen?

Verhofstadt: Das muss nicht notwendigerweise lange dauern. Es gibt Länder, wo das sehr rasch geht, in wenigen Wochen oder gar Tagen. Alles hängt vom politischen Willen ab.

STANDARD: Schließen Sie aus, dass die Staats- und Regierungschefs trotzdem jemand anderen nominieren, wenn sie einen Kompromiss finden müssen? Gegen alle drei Kandidaten gibt es massive Widerstände vonseiten des britischen Premierministers David Cameron, weil sie alle drei sehr integrationsfreundlich sind, und auch vom Ungarn Viktor Orbán.

Verhofstadt: Sie können das versuchen. Aber das EU-Parlament wird das nicht akzeptieren. Es wird für einen anderen Kandidaten keine Mehrheit im Plenum geben – für jemanden, der kein Kandidat war.

STANDARD: Warum sind Sie sich da so sicher? Gemäß EU-Vertrag hat der Europäische Rat das Nominierungsrecht, das Parlament kann mit der Mehrheit der 751 Stimmen nur ablehnen oder eben zustimmen.

Verhofstadt: Aber das ist entscheidend. Wir Abgeordneten wählen den Kommissionspräsidenten, nicht die Regierungschefs, nicht die Parteichefs der europäischen Parteien. Der Rat der Regierungschefs macht einen Vorschlag, dafür braucht es im Rat eine qualifizierte Mehrheit. Es gibt kein Vetorecht mehr für Einzelne. Darum geht es. Diesbezüglich besteht im Parlament Konsens, nicht nur bei EVP, SP und Liberalen, auch die Grünen sehen das so.

STANDARD: Bis jetzt hat es bei der Nominierung von Kommissionspräsidenten immer noch kaum durchschaubare Deals gegeben. 2004 war Juncker Favorit, er wollte nicht. Dann wurden Sie beim EU-Gipfel aufgestellt, aber vom Briten Tony Blair und einigen konservativen Regierungschefs verhindert. Am Ende wurde es der kaum bekannte Portugiese José Manuel Barroso als kleinster gemeinsamer Nenner. Wieso soll es diesmal anders sein?

Verhofstadt: Ich kann natürlich nicht sicher sein, was der Rat der Regierungschefs tun wird. Aber ich kann sicher sagen, was wir im Parlament tun werden: Wir werden niemandem eine Mehrheit geben, wenn sie jemand anderen nominieren als einen der Spitzenkandidaten, die sich der Wahl gestellt haben und die von den Parteien dafür nominiert wurden. Es braucht das Ja des Parlaments, um Kommissionspräsident zu werden. Seien wir doch ehrlich: Wenn es anders liefe, müsste man doch den Wählern sagen: Das Ganze ist lachhaft, der ganze Wahlkampf war nur ein Spiel. Es diente nur der Unterhaltung der Bürger. Das kann nicht sein.

STANDARD: Aber die Kritiker des Modells Spitzenkandidat sagen, das sei so im EU-Vertrag gar nicht vorgesehen. Kratzt Sie das nicht?

Verhofstadt: Ja, sie können nominieren. Aber das Parlament muss zustimmen. So ist es.

STANDARD: Ihre Erklärungen sind interessant, weil Sie zwischen 1999 und 2008 belgischer Premierminister waren, also im Rat der Regierungschefs alle Reformen der EU-Verträge seit dem EU-Gipfel von Nizza im Jahr 2000 mitbeschlossen haben. Dann kam der Verfassungsvertrag 2003, der beim Referendum in Frankreich scheiterte, bis hin zum heutigen EU-Vertrag von Lissabon. Diese Gespräche bei EU-Gipfeln laufen ja hinter verschlossenen Türen. Sie waren dabei. Was war der Wille der Regierungschefs in Bezug auf die neuen Regeln zur Bestimmung des neuen Kommissionspräsidenten?

Verhofstadt: Also, es hat folgende Entwicklung gegeben: In der Vergangenheit hat der Europäische Rat darüber einstimmig entschieden. Dann ist man dazu übergegangen, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden soll, um Blockaden durch Einzelne per Veto zu vermeiden. Und heute ist es so, dass beide Institutionen gleichrangig sind, der Rat und das Parlament.

STANDARD: Was war der politische Wille dahinter, die Absicht der Regierungschefs?

Verhofstadt: Es geht darum, dass zwei EU-Institutionen ihre Zustimmung geben müssen und in den Prozess der Nominierung eingebunden sind. Deshalb gibt es ja die Erklärung Nummer 11 zu den Artikeln des EU-Vertrags. Und die erklärt genau, wie der Artikel funktioniert, wie es gemeint ist. Beide Institutionen, Rat und Parlament, müssen zusammenkommen und in einem gemeinsamen Procedere den Chef der Kommission bestimmen, auf Basis von Gleichberechtigung.

STANDARD: Also ist das Vorgehen mit den Spitzenkandidaten auch im Geist des EU-Vertrags von Lissabon, der seit Dezember 2009 in Kraft ist?

Verhofstadt: Exakt. Es waren nicht nur die Regierungschefs und die EU-Parlamentarier, sondern übrigens auch die nationalen Parlamente, die das wollten. Es war der EU-Konvent 2002, der das so gestaltete. Da waren alle involviert, auch die EU-Kommission. Das sollte niemanden überraschen.

STANDARD: Ist also nur der Brite David Cameron gegen die Wahl eines der drei Spitzenkandidaten für den wichtigsten Posten in der Gemeinschaft?

Verhofstadt: Es sieht so aus. Die Parteien – Christdemokraten, Sozialisten und Liberale – haben ihre Kandidaten aufgestellt, um den Weg zu mehr Demokratie und Bürgermitsprache zu gehen. Die Parteichefs, 27 von 28 Regierungschefs stimmten dafür. Es sind nur die britischen Konservativen, die sich daran nicht beteiligt haben.

STANDARD: Ihre Ansage ist, dass Sie selber Kommissionspräsident werden wollen. Ihre Fraktion hat etwas mehr als 80 Abgeordnete, der Abstand zur Europäischen Volkspartei mit 283 und den Sozialisten mit 194 Sitzen ist im Moment riesig. Wie soll das also gehen?

Verhofstadt: Wie ich schon sagte: Dem nächsten Kommissionspräsidenten muss es gelingen, im EU-Parlament eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Wenn wir Liberalen bei den Wahlen gut abschneiden, dann können wir ein Programm anbieten, das meiner Meinung nach eine Mehrheit im Plenum bekommen könnte, sollten die beiden anderen das nicht zustande bringen.

"Wir brauchen viel mehr Emotion und Begeisterung für Europa", findet der liberale Spitzenkandidat Guy Verhofstadt. Neos sei eine Partei junger Leute, die Stillstand überwinden wollten. Foto: Mayer
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STANDARD: Also als Kompromisskandidat im EU-Parlament, sozusagen?

Verhofstadt: Die Christdemokraten sagen, um aus der Krise zu kommen, müssen wir noch mehr sparen. Das ist falsch. Wenn wir so weitermachen, werden wir noch zehn Jahre lang Stagnation haben, kein Wachstum. Sie sagen, man müsste nur sparen, ohne große Strukturreformen, dann komme das Wachstum zurück. Auf der anderen Seite stehen die Sozialisten, die sich ganz dem Deficit-Spending verschreiben und noch höhere Schulden in Kauf nehmen wollen. Für keine dieser Politiken wird sich im neuen EU-Parlament eine Mehrheit finden.

STANDARD: Was können Sie besser als Schulz und Juncker?

Verhofstadt: Sie sind Männer der Vergangenheit, ich bin einer der Zukunft.

STANDARD: Was schlagen Sie vor?

Verhofstadt: Wir sagen im Sinne der Christdemokraten, dass fiskalische Disziplin immer wichtig ist. Aber wir brauchen daneben dringend ein zweites Element, und das ist Wachstum. Aber es sollte nicht ein Wachstum durch weitere Defizitpolitik sein. Wir brauchen einen neuen Schub der europäischen Integration, die sollte die Maschine zum Erzeugen von Wachstum sein. Das ist der Punkt, an dem wir anknüpfen, was schon Jacques Delors vor mehr als 20 Jahren tat, als der Binnenmarkt für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital geschaffen wurde. Jetzt brauchen wir eine zweite Welle des Abbauens von Barrieren in Europa.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Verhofstadt: Wir müssen die Bankenunion rasch umsetzen, damit die Realwirtschaft davon profitieren kann. Das größte Problem der Wirtschaft ist derzeit die Versorgung mit Krediten. Wir brauchen mehr Liquidität und niedrige Zinsen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wir brauchen auch endlich einen gemeinsamen europäischen Energiemarkt, die Preise für Energie müssen sinken. Davon wird seit langem geredet, aber es passiert nichts in diese Richtung. Das Gleiche gilt für den digitalen Sektor. Wir brauchen europäische Zukunftsanleihen, um massive Investitionen in gemeinsame Infrastrukturen auszulösen. Das soll unter einem gemeinsamen Dach stattfinden, einer echten europäischen wirtschaftlichen Governance. Nur so können wir Wachstum und damit auch Arbeitsplätze nachhaltig schaffen.

STANDARD: Das klingt wirtschaftlich so, als würden Sie den Konservativen näherstehen. In der derzeitigen Kommission gibt es auch eine klare Dominanz von Christdemokraten und Liberalen, aber das, wovon Sie sprechen, ist nicht realisiert worden. Warum?

Verhofstadt: Meine Kritik richtet sich eben gegen die Führung der EU-Kommission. Wir haben dort ein klares Führungsproblem. Die Kommission muss die Führung übernehmen, damit wir aus der Krise rauskommen. Genau so war das unter Jacques Delors. Er hatte eine Vision, und er hat die entsprechenden Vorschläge auch auf den Tisch der Regierungschefs gelegt. Heute geschieht das nicht. Barroso ruft zuerst in Berlin und in Paris an, um nachzufragen, was zu tun ist. Genau das ist der falsche Weg.

STANDARD: Wie wollen Sie die deutsche Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande überzeugen, dass Sie der richtige Mann sind, das zu ändern?

Verhofstadt: Seit fast zwanzig Jahren gibt es nun eine schwache Führung in der EU-Kommission. Das ist ein Fehler. Wir brauchen eine starke europäische Führung, das ist vor allem auch im nationalen Interesse. Europa hat einen zusätzlichen Nutzen. Es reicht nicht, die Politik von 28 Nationalstaaten zu übernehmen. Darum geht es. Wobei es gar nicht darum geht, noch mehr europäische Regulierung einzuführen. In manchen Marktbereichen gibt es sogar viel zu viel Regulierung. Es gibt viele Bereiche, die man auf nationaler Ebene besser löst, und andere, wo man neue europäische Werkzeuge brauchen würde. Das ist mein Vorschlag. Es ist so wie in den 1990er-Jahren bei Delors mit dem Binnenmarktkonzept. Wir brauchen einen solchen zweiten Schub für Europa.

STANDARD: Sie waren ab 1999 belgischer Premierminister und haben ein schwer verschuldetes, bürokratisches und versteinertes Land reformiert. Das haben Sie mit einer Regenbogenkoalition gemacht. Ist das auch Ihr Modell für Europa, Rot-Grün-Liberal?

Verhofstadt: Die erste Koalition, die ich führte, war eine Regenbogenkoalition, die zweite eine mit den Sozialisten. Die Grünen hatten bei den Wahlen verloren.

STANDARD: Mit welchem Partner wollen Sie Kommissionspräsident werden?

Verhofstadt: Das kann ich so nicht sagen. Es hängt zuerst vom Wahlergebnis ab, also auch vom Effekt dessen, was ich vorschlage. Sie sagen ja, mein politischer Weg sei eher bei Mitte-links, aber mein Programm eher Mitte-rechts. Ich kann dazu sagen: Ja, ich habe Erfahrung mit Mitte-links, und mein Programm liegt auf dem Tisch. Klar ist, dass ich ein Kandidat der Mitte bin. Da wollen wir auch hin. Ich habe diese Vision für die Zukunft, die ist auch gar nicht so radikal. Sie ist jenseits der Euroskepsis, aber auch weit weg vom Schuldenmachen. Die Frage wird sein, wer eine Mehrheit bilden kann. Man wird sehen, was im neuen EU-Parlament möglich sein wird, auch programmatisch.

STANDARD: Ich sehe jedenfalls keine Mehrheit für Europäische Volkspartei und Liberale. Gemäß den Umfragen verliert die EVP an die 60 von 280 Sitzen, auch die Liberalen etwa ein Viertel der Mandate, vor allem durch den Einbruch der FDP in Deutschland.

Verhofstadt: Man wird sehen. Es könnte eine Mitte-links-Mehrheit geben, aber auch Mitte-rechts. Vielleicht wird man sogar drei Fraktionen brauchen, um eine klare Mehrheit zu bilden. Das müssen wir nach der Wahl analysieren.

STANDARD: Naheliegend ist, dass EVP und SP sich zu einer großen Koalition zusammentun und den Wahlgewinner, also Juncker oder Schulz, zum Kommissionspräsidenten machen und ein gemeinsames politisches Programm aufstellen.

Verhofstadt: Möglich, dass es so läuft. Die sind auf der anderen Seite aber so gespalten in ihren Vorhaben. Und so stabil wäre das auch nicht, eine solche Mehrheit. Die wäre von einigen großen nationalen Delegationen abhängig. Eine stabile Mehrheit im Europäischen Parlament ist nicht so leicht zu kriegen. Es reicht nicht einfach so, 376 Sitze zu vereinen. Das ist noch lange nicht stabil. Man braucht weit mehr als 400 Sitze, um im parlamentarischen Alltag eine stabile Mehrheit abzusichern.

STANDARD: Was ist der Grund, warum die Liberalen so schwach sind? Prognosen gehen davon aus, dass sie ein Viertel der Mandate verlieren.

Verhofstadt: Warten wir einmal das Ergebnis ab. Diese Umfragen kalkulieren nicht ein, dass es in einigen Ländern neue Parteien, neue Listen gibt, in Italien zum Beispiel, auch in Österreich, in Polen, in Frankreich. Ich habe mit zehn neuen Listen in ganz Europa gestartet. Man darf nicht nur auf die Verluste von bestehenden Parteien schauen.

STANDARD: Was ist Ihr Wahlziel?

Verhofstadt: Ich gehe davon aus, dass wir die Mandate halten können. In der nächsten Periode wird die Zahl der Sitze im Parlament auf 751 reduziert, das wäre dann in Summe sogar eine kleine Stärkung. Zehn Prozent der Sitze im EU-Parlament wie bisher, das ist unser Wahlziel.

STANDARD: Die Neos in Österreich werden von vielen als die neuen jungen Christdemokraten gesehen. Parteichef Mathias Strolz kommt aus der ÖVP. Wie sehen Sie Ihre neuen Partner in Österreich?

Verhofstadt: Neos ist eine Kooperation zwischen dem Liberalen Forum einerseits und jungen Leuten, die aus der ÖVP kommen, andererseits. Das ist eine alte Partei, in der sich die jungen Leute nicht wohlfühlten, weil sie Liberale sind. Das hat eine junge, sehr dynamische Partei erzeugt, die sich Neos nennt. Ich bin mit denen seit dem ersten Tag in Kontakt.

STANDARD: Wie kam das?

Verhofstadt: Das erste Zusammentreffen war sehr lustig. Ich war im Winter 2012/13 von Brüssel auf dem Weg zu einem Parteikongress in Rumänien. Es war ein sehr strenger Winter, und so saß ich auf dem Flughafen in Wien fest. Ich konnte nicht weiter. Also sagte ich, ich gehe in die Stadt, um etwas zu essen. Die Wiener Küche ist ja exzellent, sie wird oft unterschätzt. Österreich ist auch ein Land, in dem exzellenter Wein produziert wird. Auf dem Weg ins Restaurant dachte ich dann, es gibt ja eine neue Partei, die Neos, die würde ich gerne kennenlernen. So haben wir Matthias Strolz angerufen, und der hat, wie er eben ist, spontan und euphorisch gesagt: "Ja, da komme ich gleich vorbei!" So haben wir uns getroffen, und es hat gleich gepasst. Wie haben uns sofort absolut verstanden. Ich habe ihm erzählt, wie ich als Junger in die Politik kam. Und so hat unsere Kooperation begonnen. Ich war dann beim Parteikongress der Neos, sie sind ins Parlament eingezogen. Und deshalb haben wir jetzt morgen, Freitag, auch den Kongress der europäischen Liberalen in Wien. Ich finde es wunderbar, dass es eine neue proeuropäische Partei gibt, die nicht nur rational für Europa ist, sondern so jung und emotional ist für dieses Projekt. Wir brauchen viel mehr Emotion, Begeisterung für Europa.

STANDARD: Sie gelten ja als Paradeeuropäer, waren als Belgier stets für mehr EU-Integration, gemeinsame Projekte, haben als Premier die Nato-Partner und insbesondere den britischen Premierminister Tony Blair geärgert, als Sie die Schaffung einer eigenen europäischen Armee verlangt haben. Im Moment dominieren die Nationalstaaten, insbesondere Deutschland. Welche EU-Reformen würden Sie als Erstes angehen, was muss die Kommission anstoßen?

Verhofstadt: Die Kommission muss eine Führungsrolle übernehmen. Wir müssen Vorschläge vorantreiben. Es ist derzeit so, dass man immer nur viel zu kurzfristig reagiert, manche so tun, als wäre die Krise überwunden. Das ist eben nicht der Fall. Die Hauptfrage ist, wie gesagt: "Wie kommen wir aus der Stagnation zu mehr Wachstum?" Davon hängt alles ab. Wachstum beginnt ab zwei Prozent plus, erst ab dann können wir wieder mehr Beschäftigung schaffen. Als Kommissionspräsident würde ich noch 2014 ein großes Programm auf den Tisch legen. Wir haben keine Zeit zu warten. Nehmen Sie nur die Energiepolitik. Ich war 2006 als Regierungschef dabei, als wir unter britischem EU-Vorsitz in Hampton Court sagten: "Wir starten jetzt eine gemeinsame Energiepolitik!"

STANDARD: Und?

Verhofstadt: Nichts geschah, bis heute. Ich könnte Ihnen eine ganze Liste ähnlicher Beispiele geben. Wir müssen den Stillstand überwinden. Wir müssen zeigen, dass es im Interesse der Nationalstaaten liegt, dass das geschieht. Es ist nicht gegen sie gerichtet. Ich will keinen europäischen Superstaat, mit mehr Bürokratie, Überregulierung und so, nein, ganz im Gegenteil. Die Union muss sich nicht einmischen ins Pensionssystem der Staaten zum Beispiel oder in die Sozialpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt. Das kann alles auf nationaler Ebene laufen. Wir müssen in Europa Rahmen vorgeben, aber nicht die Details der Politik.

STANDARD: War Barroso zu schwach, das durchzusetzen?

Verhofstadt. Ich habe mit Barroso nicht eine, sondern dutzende Debatten geführt, privat und noch öfter im Plenum des Parlaments, und ihm gesagt: Sie legen tolle Konzepte für bessere wirtschaftliche Governance für die Eurozone vor, gute Ideen. Aber das war's dann schon. Es wird nicht in die Praxis umgesetzt, es wird nicht übersetzt in die Staaten.

"Europa ist nicht die Ferne. Wirklich gefährlich wird es erst, wenn die Jungen zu denken anfangen, dass sie Europa verlassen müssen, weil sie glauben, dass sie auf dem europäischen Kontinent keine Chance haben."
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STANDARD: Haben Sie Anzeichen, dass die Regierungen sich ändern könnten, die Blockade gemeinsamer Politik aufgeben?

Verhofstadt: Es wird eine Bewegung geben müssen. Wir sind im Jahr 2008 in die Krise geraten und haben es bis heute nicht geschafft, da rauszukommen. Sechs Jahre später muss man sagen, so kann es nicht weitergehen, wir wollen keinen japanischen Winter, eine Stagnation ohne Ende, zwei Jahrzehnte lang. Daher müssen wir die Mitgliedstaaten überzeugen, dass wir Programme haben können, wie wir die Krise verlassen.

STANDARD: Welche drei Sofortmaßnahmen würden Sie ergreifen?

Verhofstadt: Die Bankenunion raschest umsetzen, sie sogar noch vertiefen. Wir müssen die Kreditklemme beenden. Das Minus bei Krediten an private Unternehmen beträgt zehn Prozent in den vergangenen sechs Jahren. Wo sollen denn die Jobs herkommen? Die werden ja nicht von Politikern geschaffen. Wir brauchen Investitionen. Das ist der Punkt. Darüber hinaus müssen wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, die gemeinsamen Märkte auszubauen, die Barrieren zu überwinden. Wir müssen europäische Infrastrukturen bauen. Die Wirtschaft braucht Möglichkeiten, dann werden die Unternehmen auch wieder investieren.

STANDARD: Was würden Sie heute einem jungen Menschen raten, damit er einen Job findet?

Verhofstadt: Europäisch denken. Es gibt nicht nur Arbeitslosigkeit, es gibt auch offene Jobs. Die Jungen müssen mobil sein. Wir brauchen Mobilität.

STANDARD: Sie sollen ins Ausland, in die Ferne gehen?

Verhofstadt: Europa ist nicht die Ferne. Wirklich gefährlich wird es erst, wenn die Jungen zu denken anfangen, dass sie Europa verlassen müssen, weil sie glauben, dass sie auf dem europäischen Kontinent keine Chance haben. Das ist die wirkliche Herausforderung, vor der wir stehen.

STANDARD: Was bedeutet die Krise in der Ukraine für die EU?

Verhofstadt: Man muss sich in Köpfe und das Herz der Bevölkerung hineindenken. Was wollen die Menschen? Für sie geht es nicht um einen ideologischen Streit zwischen dem Westen und Russland. Sie wollen in Freiheit leben, in einem demokratischen Land, ohne Korruption. Das treibt die Ukrainer um. Das wollen sie. Heute ist alles korrupt, im Gesundheitssystem, in der Justiz, überall müssen die Leute geschmiert werden. Das wollen die Bürger loswerden. Wir Europäer können ihnen dabei helfen, die Dinge zu ändern. Es wird aber nur gelingen, wenn wir gemeinsam auftreten, sonst wird man gegen Russland und Präsident Wladimir Putin nichts ausrichten. Es gibt keinen Grund, vor ihm Angst zu haben. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 2.5.2014)