Lässt den Leser mit einer ihrer Figuren im Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" ins Internet springen: Ulrike Draesner.

Foto: Regine Hendrich

"Affenliebe" sagt man und meint dabei Eltern, die eine übertriebene Zuneigung zu ihren Kindern entwickeln. Der Begriff rührt daher, dass man meint, besonders Menschenaffen gingen sehr zärtlich miteinander um und legten wenig Aggression an den Tag. Mit dieser Vorstellung räumt Ulrike Draesner in ihrem neuen Roman gründlich auf: Unsere Artgenossen haben manchmal Kinder zum Fressen gern und führen blutige Raubzüge.

Dennoch ist die Hauptperson Eustachius Grolmann ein Mensch voller "Affenliebe". Das Spezialgebiet des Professors der Zoologie ist eben der Menschenaffe. Zu Beginn des Romans ist er "zweiundachtzigdreiviertel" Jahre alt, darauf legt er Wert. Er forscht und forscht - und bringt dabei seine Mitwelt zur Verzweiflung. So hält er in seinem paradiesischen, zum Dschungel umgebauten Gärtchen zwei Gibbons, lebt mit ihnen gesellig - bis die Polizei einschreitet.

Eustachius Grolmanns unbegrenzte Affenliebe hat einen tieferen Grund. Einer Kindheit in gutbürgerlichen Verhältnissen folgte die Vertreibung aus dem heimatlichen Paradies: 1945 müssen er und seine Familie aus Schlesien in den Westen fliehen, genauer gesagt nach Bayern. Dort sind und bleiben diese Schlesier Fremde. Grolmann erlebt heranwachsend den ganzen Gräuel des Krieges: Hunger, Verzweiflung, Tod. Bis zum Schluss von Draesners Roman ist nicht ganz klar, ob Eustachius seinen älteren, behinderten Bruder umgebracht hat. Lust auf Brand und Mord - das sind die "Koordinaten", mit denen der junge Eustachius den Homo sapiens belegt.

Da ist seine spätere Hinwendung zu den Affen nur zu verständlich. Sie sollen die besseren Menschen sein. Doch der Zoologe merkt im Laufe der Zeit, dass seine wissenschaftlich abzusichernde Affenliebe auf tönernen Füßen steht. Und so ändert er sein Ziel: Anhand von Verhalten und Gehirnstruktur des Affen soll erforscht werden, weswegen der Mensch sich so extrem aggressiv gebärden kann. Es geht also Professor Grolmann nicht darum, zu zeigen, wie viel Mensch im Affen steckt, sondern wie viel zerstörerischer urzeitlicher Affenwille im Menschen vorhanden ist.

Der Unterschied zwischen Mensch und Affe liegt auch in der komplexen Erinnerungsstruktur des Homo sapiens begründet. Durch sie erlernt er viel, er hat aber auch gelernt, Erinnerungen zu verdrängen. Und genau dieses Verhalten ist ein Hauptstrang in Draesners Roman. Eustachius Grolmann und andere Vertriebene haben viel vom erlebten Schrecken im Gehirn ausgeschaltet, es vergessen müssen, um ein neues Leben beginnen zu können. Doch die verbannte eigene Geschichte kehrt wieder und wieder, bei Tag und bei Nacht.

Äußerst wichtig ist in Draesners Roman, dass diese verdrängte Erinnerung nicht nur die Kriegsgeneration umfasst. Auch die Tochter des Professors, Simone, selbst Affenforscherin, ihr Freund, der Psychoanalytiker Boris, und ihre Tochter Esther sind davon betroffen. Sie alle müssen das Erlebte der Kriegsgeneration - Verlust, Vertreibung und Neubeginn - in ihr eigenes Leben integrieren.

Ja, es ist, ob sie wollen oder nicht, Teil ihres eigenen Lebens! Damit stellt aber Ulrike Draesner eine entscheidende Frage, die weit über den Roman hinausgeht: Genügt es, den Zweiten Weltkrieg und das Dritte Reich geschichtlich genau zu analysieren, oder hat sich nicht vielmehr in unseren Köpfen ein dunkles kollektives Trauma gebildet, dem sich jede Generation neu stellen muss, um es zu verarbeiten? Der Kirchenvater Augustinus hat die Erinnerungsfähigkeit des Menschen, die "memoria", über alles gestellt. Denn sie verbürge die ewige, von Menschengedächtnis zu Menschengedächtnis weitergegebene Erinnerung an Gott. Gott kommt in Draesners Prosatext nicht vor. Doch die menschliche Erinnerungskraft ist bei ihr ebenso stark wie bei Augustinus. So treten im Roman die Toten auf, etwa Eustachius Grolmanns Eltern, und erinnern sich, erzäh- len aus ihrer Sicht, wie es gewesen ist.

Der neue Roman von Ulrike Draesner ist tieftraurig, aber auch urkomisch. Gerade die Figur des Eustachius Grolmann und seine Affenliebe laden oft zum Schmunzeln ein. Er ist ein störrischer Alter, der nicht aufgibt, er ist voll Tatendrang und kann das Zigarettenrauchen nicht lassen. Die Liebe zwischen ihm und seiner Enkelin Esther ist "affenartig" zu nennen. Die Stilvirtuosität Ulrike Draesners ist bei alldem bewundernswert. Denn im Roman lässt sie in einzelnen Kapiteln acht verschiedene Personen zu Wort kommen: die Toten, die Alten, die im Leben Stehenden und die Generation der heute Siebzehn- bis Zwanzigjährigen. Jeder verleiht sie eine ganz eigene Stimme, und doch hält alle eine kollektive Erinnerung zusammen.

Was aber hat es mit dem Romantitel auf sich: Sieben Sprünge vom Rand der Welt? Sechs Figuren leiden ganz konkret unter der Vertreibung, sie stehen in ihrer Erinnerung am "Rand der Welt" - und springen doch ins Leben, das sie zu meistern haben. Die siebte Figur ist eine Leerstelle im Roman, mit ihr springt der Leser ins Internet. Denn Ulrike Draesner selbst hat für ihren neuen Ro- man eine eigene Website einrichten lassen: Unter www.der-siebte-sprung.de findet man weitere Texte und Dokumente, die mit vermeintlicher "Affenliebe" und der Vertreibung im Zweiten Weltkrieg zu tun haben.

Auch Draesners eigene Familie war davon betroffen. Und wer will, kann auf dieser Website seine eigene "Geschichte" zu diesen Themen niederschreiben. Alles in allem ist Ulrike Draesner mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt ein großes Prosawerk gelungen, thematisch und stilistisch, auf der Höhe der Zeit ist es außerdem. Einem solchen Roman kann man nur viele Leser wünschen. (Andreas Puff-Trojan, Album, DER STANDARD, 3./4.5.2014)