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Künstlerin Ruth Beckermann
Foto: Archiv
Graz - Der älteste ist 93, und zu seinen Kindheitserinnerungen gehört ein Familientreffen in Südtirol, dem der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende setzte. Die jüngste ist 15 und erst vor einigen Monaten alleine aus dem Iran nach Wien gekommen: Zwei von 25 ProtagonistInnen in Ruth Beckermanns europamemoria. Die Filmemacherin - zuletzt: Homemad(e) - und Autorin, überführt das Dokumentarische in ihrem jüngsten Projekt in den Ausstellungsraum:

In 25 Videokabinen ermöglicht Beckermann konzentrierte "Begegnungen" mit jeweils einer Person, die über konkrete Erfahrungen im Zusammenhang mit Migration erzählt. Die Grundidee für dieses Setting, so Beckermann im Gespräch mit dem STANDARD, sei eine filmische gewesen: "Bewegung entsteht beim Film durch Montage, durch den Schnitt und nicht durch Bewegung der Kamera, wie man immer meint."

Bei europamemoria sind nun die AusstellungsbesucherInnen selbst für die Montage verantwortlich, es gibt keine vorgegebene Reihenfolge. Beckermann präsentiert "Einstellungen im Raum" - die einzelnen Erzählungen dauern in etwa zwischen zwei und sieben Minuten, die Regisseurin hat ihre Gegenüber in Großaufnahmen mit fixierter Kamera aufgenommen. Die BetrachterInnen erwandern sich in der Zeit europäische Gesichter und europäische Erinnerungen, die eine "andere Perspektive auf die große Geschichtsschreibung einbringen".

Das Projekt konfrontiert in diesem Sinn mit individuellen Lebenserinnerungen, die oft wiederum bereits mit ersten Sätzen auf komplexe historische Konstellationen und weitläufige territoriale Verknüpfungen verweisen: Man begegnet einem "Palästinenser aus Ottakring", geboren in Beirut, oder einem in Frankreich lebenden Vietnamesen, der in den 50er-Jahren aus dem damaligen Indochina via Paris nach Madagaskar gelangte und dort kurz ein paradiesisches Exil erlebte.

Einer Senegalesin, die sich zwischen Afrika, den USA, Frankreich und Bayern als Frau mit "vier verschiedenen Persönlichkeiten" definiert oder einer Serbin, die das Fortgehen unzähliger Freundinnen und Freunde während der 90er-Jahre betrauert.

Jahrhunderterzählung

"Es geht um die Auswirkungen der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts auf die Zweite - bis heute." Und die Idee für das Projekt entstand nicht zuletzt aus Beckermanns eigener Wanderbewegung: Seit drei Jahren lebt sie in Wien und in Paris, und die Erfahrung, wie verschieden dort trotz vergleichsweise geringer Entfernung europäische Geschichte erinnert wird, welche unterschiedlichen gegenwärtigen Auseinandersetzungen die Vergangenheit jeweils zeitigt, gab den Anstoß.

"Die Konstruktion von Geschichte fasziniert mich sehr, und wie sich das verändert. (...) Auch wenn es bei uns eben nicht wahrgenommen wird, aber wenn man beispielsweise überlegt, wie viele Kinder aus Serbien oder der Türkei bei uns in den Schulen sitzen - welche Geschichte werden sie gelehrt?"

Für Beckermann ist der Schritt vom Kino in den Ausstellungsraum, in eine andere Öffentlichkeit jedenfalls eine sehr interessante Unternehmung: Den Dokumentarfilm sieht sie einer zunehmenden "Verfernsehung" ausgesetzt, der Raum dafür wird auch im Kino enger: "Das Spannende für mich sind immer die grenzüberschreitenden Dinge, die, die ein bisschen gegen den Strich sind und über den Rand gehen. Das ist natürlich schwierig unterzubringen, dabei fällt man oft zwischen die Stühle, aber dort gefällt es mir auch: dazwischen."

Im Czernin-Verlag erscheinen der europamemoria-Katalog (Hg. Beckermann, Stefan Grissemann) und die DVD. Von 25. bis 28. September wird im Filmzentrum im Rechbauerkino eine Werkschau mit sechs Dokumentarfilmen zu sehen sein.

Zeit und Ort der Ausstellung siehe Wochenplanerin . (DER STANDARD, Printausgabe 23./24.08.2003)