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Österreich zeigte kein Interesse an Hermann Schreiber, der das Genre des populären Sachbuchs mitbegründete.

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Der 1920 in Wiener Neustadt geborene Hermann Schreiber, der kürzlich an seinem 94. Geburtstag in München verstorben ist, war einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Seine Bücher haben eine weltweite Auflage von zwanzig, dreißig Millionen erreicht, wie viel genau, das wusste Schreiber zuletzt selber nicht, hatte er den Überblick über sein eigenes Werk doch längst verloren: Waren es 75 oder 105 Bücher, die er veröffentlicht hatte? Es ist das Schicksal des Sachbuchautors, dass die Nachwelt ihm keine Kränze flicht und die Mitwelt ihm zwar gelegentlich hohe Auflagen beschert, aber von ihm als dem Urheber, dem Verfasser dieser Bücher kaum Kenntnis nimmt, weil ihm der Nimbus des Originalgenies abgeht. Immer wieder stieß Schreiber in den letzten 20 Jahren auf Neuausgaben seiner Bücher, die von ihm nicht autorisiert waren, auf Nachdrucke, bei denen sich geschäftstüchtige Verleger die Tantiemen ersparen wollten.

Sein Schaffen ist so immens vielgestaltig, dass man sich für vielerlei Anliegen bei ihm bedienen kann. Er hat solide Biografien von Städten geschrieben, von Florenz, Paris, Straßburg, Venedig. In mindestens zehn Büchern hat er seine Leser in die Provence und ins Burgund mitgenommen, zu versteckten Orten geführt und mit historischen Gestalten der Region bekanntgemacht.

Goten, Vandalen, Hunnen

Seine Bücher über die Goten, die Vandalen, Hunnen sind im Goldenen Zeitalter des Sachbuchs verfasst worden, zu dessen literarischen Gründervätern er in den späten Fünfzigerjahren selbst gehörte. Zeitweise hat er vier große Verlage beliefert und jedes Jahr mehrere Bücher veröffentlicht, gar nicht zu reden von den Übersetzungen, zu denen immerhin sieben frühe Romane von George Simenon zählen. Die Spannbreite seiner Bücher reichte vom historischen Sachbuch (Auf den Spuren des frühen Menschen) über die populäre Kulturgeschichte (Die Welt im Augenblick, eine Geschichte der Fotografie) bis zu historischen Romanen (Kaiserwalzer) und von vermeintlich anrüchigen Arbeiten (Das älteste Gewerbe) bis zu wirklich anrüchigen (etwa einem wohlrecherchierten Münchner Callgirl-Führer). Um seine stupende Produktivität sinnvoll zu nutzen und der Vielfalt seiner Interessen und Begabungen gerecht zu werden, hat ihm sein eigener Name längst nicht ausgereicht, sodass er wie nebenhin auch als Ludwig Bühnau, Claude Villaret, Ludwig Berneck oder Heidemarie Hirschmann zum Zeitvertreib und Gelderwerb Bücher geschrieben und veröffentlicht hat.

Man könnte annehmen, ein solcher Autor würde auch die Literaturwissenschaft interessieren, aber wie bereitwillig Schreiber Auskunft gab, wenn es um das Werk und Leben so vieler bekannter und vergessener Zeitgenossen ging, so konsequent ist er selbst zeitlebens von der Forschung vernachlässigt worden. Dabei gäbe es wahrlich genug, das erforscht und gewürdigt zu werden verdiente: etwa sein literarisches Frühwerk, vier nach 1947 veröffentlichte Romane, von denen Sturz in der Nacht, der von dem Absturz zweier Maschinen der Air France handelt, dem Autor den Posten als Chefredakteur der Zeitschrift Geistiges Frankreich kostete, die in Wien unter Patronanz der französischen Besatzungsbehörden erschien; dafür erreichte es als erstes von vielen Büchern Schreibers auch in der kommunistischen Welt hohe Auflagen.

Neuerfindung des Sachbuchs

Oder die Rolle, die er bei der Neuerfindung des "Sachbuchs" spielte - als eine "literarische Allzweckwaffe", wie ihn einer seiner Verleger rühmte, die sich auf nahezu jedes Thema ansetzen ließ. Dieser Vielschreiber interessierte sich tatsächlich für fast alles, sodass es von ihm Bücher über die Päpste des Mittelalters ebenso gibt wie zur Technologie der neuesten Fortbewegungsmittel. Vom Einbaum zum Düsenklipper hieß denn eines seiner Bücher, die viel gelesen wurden und an die sich noch heute manche mit mir in die Jahre gekommene Leute erinnern, ohne ihre spannende Jugendlektüre mit dem Namen des Verfassers in Verbindung zu bringen.

Mir erging es selbst nicht anders, als sich mir eines Tages der damals über siebzig Jahre alte Mann bescheiden vorstellte. Er hatte mich angerufen, war aus München, wo er lebte, mit dem Wagen nach Salzburg gefahren und redete drei Stunden lang in einem Kaffeehaus auf mich ein. Ich hatte keine Ahnung, wer dieser schwergewichtige Mann mit den auffallend vollen Lippen, den dicken Brillen und dem weißen Schnauzbart war, der mir wie nebenbei ein halbes Jahrhundert österreichischer Literatur aufblätterte, weil er sie alle gekannt hatte, die gekauften und die unbestechlichen Autoren seiner Generation, die berühmten, verkrachten und verkannten Dichter und erst recht all die literarischen Betriebsnudeln. Er erzählte und erzählte, und erst später erkannte ich in ihm den Verfasser von Büchern, die mich in meiner Jugend begeistert hatten, wie etwa die Lebensgeschichte des "Marco Polo".

In den letzten zwanzig Jahren habe ich Schreiber fünf-, sechsmal gesehen, von ihm aber weit über hundert Briefe erhalten. Als ich ihn einmal fragte, wie man in einem Jahr drei Bücher schreiben könne, hat er mich darüber unterrichtet, wie man als Autor arbeiten und leben solle.

Er war stets mit mindestens drei Projekten gleichzeitig beschäftigt. Am liebsten war es ihm, im Auftrag eines großen Verlags für zwei, drei Monate auf Reisen zu gehen und - etwa in der Normandie oder in Irland -, für ein neues Reisebuch zu recherchieren. Auf diesen Reisen begleitete ihn seine Frau, manchmal die ganze Familie, die so zu einem interessanten Urlaub kam.

Heimatrecht in Österreich

Während er für das neue Buch recherchierte, hat er das vorige zügig fertiggeschrieben und sich die ersten Notizen für das dritte gemacht. Seine ungeheure Produktivität erklärte er sich selbst damit, dass ihn einerseits einfach zu vieles interessiert und er andrerseits wegen mancherlei persönlicher und familiärer Kalamitäten immer zu viel Geld benötigt habe.

Wien und Österreich hatte er bereits in den Fünfzigerjahren verlassen. Frankophil, wie er war, hatte sich der Kriegsheimkehrer nach 1945 anfangs vor allem an kulturellen Initiativen beteiligt, die von der französischen Besatzungsmacht protegiert wurden. Noch im Alter geriet er in Grimm, wenn er von einer Verschwörung der Leute um Hans Weigel sprach, die ihn als Kommunisten verketzerten, sodass es in Österreich für ihn kein Fortkommen gab und ihm gar nichts übriggeblieben sei, als nach Deutschland auszuweichen.

Fast 40 Jahre später, als ich gerade zum Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik bestellt wurde, bat er mich, ihm "gelegentlich Heimatrecht in Österreich zu gewähren"; er, der als Vorschusskaiser berüchtigt war und mit Verlagen wie Piper, Econ, List stets enorme Garantiehonorare aushandelte, wollte um das gleiche bescheidene Honorar, das auch allen anderen Mitarbeitern zustand, manchmal Artikel in Literatur und Kritik unterbringen. Es sind einige Dutzend geworden, meist Erinnerungen an Autoren, mit denen er in Wien befreundet war und die heute längst vergessen sind, wie Werner Riemerschmied, Ernst Jirgal, Rudolf Felmayr.

Binnen drei Tagen

Bis ein Jahr vor seinem Tod war er imstande, jedweden Text, den er mit mir vereinbarte, in exakt der vereinbarten Länge binnen drei Tagen zu liefern, den Postweg von München nach Salzburg einberechnet. Er schrieb noch mit der Schreibmaschine und verfügte über die Fähigkeit, Manuskripte auf einen Sitz herunterzuschreiben, ohne sie nachträglich umarbeiten oder auch nur korrigieren zu müssen.

Es hat ihn nicht gegrämt, dass er sich literarisch gewissermaßen selber überlebte und, einst von großen Verlagen umworben, noch zu Lebzeiten vergessen wurde. Es hat ihn aber unendlich traurig gemacht, dass man an ihm, einem der letzten Zeugen der ersten Nachkriegsjahre, gerade in Österreich so wenig Interesse zeigte. Glücklich machte ihn, wenn ihn Jüngere zu diesem oder jenem Thema befragten, wie es etwa die Publizistinnen Daniela Strigl oder Evelyn Polt-Heinzl taten, die er beide geradezu verehrte, oder der Dichter und Literaturwissenschafter Christian Teissl, mit dem er sich im Alter von neunzig Jahren befreundete.

Er wäre gerne viel häufiger befragt worden. Ich glaube, im hohen Alter hat er überhaupt nichts lieber getan, als Auskunft zu geben. Seine Schwabinger Wohnung, in der er inmitten von abertausenden Büchern lebte, konnte er in den letzten Jahren kaum mehr verlassen. Erst im allerletzten Telefonat, das wir führten, hat er keine neue Veröffentlichung angeregt, sondern geklagt: "Es ist so elend schwer, nicht sterben zu können." Am 4. Mai ist es ihm doch gelungen. (Karl-Markus Gauß, Album, DER STANDARD, 10./11.5.2014)