Joyce Carol Oates:
Wir waren die Mulvaneys
Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann,
€ 25,60/587 Seiten. DVA, München 2003

"Wir waren die Mulvaneys" ist mein persönlichstes Buch. Ich erinnere mich darin an das Amerika meiner Kindheit und Jugend", sagt Joyce Carol Oates. Wenn es dieses Amerika je wirklich gegeben hat, dann ähnelt es einer verkitschten Postkartenidylle.

Die Familie Mulvaney ist so nett und glücklich, dass sie fast wie eine Karikatur wirkt. Man lebt auf einer hübschen Farm, hat keine Eheprobleme und vier wohlgeratene Kinder. Dad hat eine eigene Firma, die Mutter, stets gut gelaunt, werkt zu Hause, managt Kinder, Tiere und Farm und verkauft nebenher auch noch Antiquitäten. Dann wird die Tochter Marianne, das allseits beliebte, strahlende und wohlerzogene Mädchen von einem Schulkameraden vergewaltigt. Marianne gibt sich selbst die Schuld an dem Verbrechen, der Bursche leugnet alles, die Familie, die Gerechtigkeit fordert, gerät ins gesellschaftliche Abseits.

Die früheren Freunde bleiben weg, die Firma geht Pleite, weil der Vater zu trinken beginnt und zunehmend aggressiver wird. Er erträgt den Anblick seiner Tochter nicht mehr, sie wird zu einer Tante verbannt und droht dort psychisch zugrunde zu gehen. Schließlich muss die heruntergekommene Farm verkauft werden. Die Familie zerbricht.

Oates entwirft eine bedrückend isolierte Welt, in der außerhalb der Familie nichts zu existieren scheint. Irgendwann ist von den Einberufungen nach Vietnam die Rede, aber das nur flüchtig. Eine Auseinandersetzung mit der Politik erfolgt nicht. Der älteste Sohn geht später zu den Marines, die Mutter hegt vage Sympathien für Jimmy Carter. Das ist alles, was von Außen in das Vakuum des Clans dringt.

Die dem Roman innewohnende Sentimentalität verbietet ein Ende in der nachtschwarzen Katastrophe, und so wird zuletzt dann doch noch ein gekittetes Gruppenbild mit Mutter und Geschwistern beschworen. Ist das ein Porträt des fiktiven ländlichen Amerika vor dem Verlust der Unschuld? Der Roman wurde 1996 geschrieben und erzählt von Ereignissen, die 1975 stattgefunden haben, aber irgendwie erschient das alles so weit entrückt wie ein naives Märchen. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 30./31.8.2003)