Die ORF-Redakteurin Marie Luise Kaltenegger, 1945 in der Steiermark geboren, arbeitete während der Regierungszeit der Unidad Popular (UP) von Salvador Allende im chilenischen Forschungszentrum der Agrarreform. Nach dem Militärputsch erhielt sie politisches Asyl in der österreichischen Botschaft in Santiago und konnte im November 1973 das Land verlassen. Sie lebt seither in Wien.

Hatte man unmittelbar vor dem Putsch das Gefühl, dass etwas Entscheidendes bevorstand? Sind die Spannungen gewachsen?
Kaltenegger: Der Escudo ist ins Bodenlose gefallen. Man zahlte 4500 Escudos für einen Dollar statt 17 zwei Jahre vorher. Es gab Übergriffe seitens der Marine auf missliebige Marinesoldaten, es gab Folterungen. Und die UP konnte nichts dagegen unternehmen. Die Versorgungslage wurde immer schlechter, Und irgendwie hat jeder gewusst: dass das von außen gelenkt wird, dass die CIA mit Koffern voller Geld anmarschiert. Dann gab es verstärkte Demo-Tätigkeiten der Frauen mit den Kochtöpfen. Die haben auch Mais vor den Kasernen ausgestreut und "Puttputtputt!" gerufen, um die Offiziere daran zu erinnern, dass sie wie kleine Hendln nichts tun. Man schon das Gefühl gehabt, dass sich etwas zusammenbraut.

Hielt man es für möglich, dass Allende-Regierung innerhalb weniger Tage Vergangenheit sein würde?
Kaltenegger: Man sah keine Chance. Es war ein Massaker. In dem Moment, wo es geheißen hat, dass Valparaiso gefallen ist, war das der Anfang vom Ende. Das Militär war überall, bewaffneter Widerstand war minimal. Die UP war ja nicht bewaffnet und die von der KP hatten ein paar alte Maschinenpistolen oder nicht einmal das.

Wie gingen Sie in den ersten Stunden mit der Situation um?
Kaltenegger: Ich bin in Richtung Büro gegangen. Jeder sollte ja an seinen Arbeitsplatz. Es herrschte Chaos, aber ein paar Busse und Taxis sind noch gefahren. Mein Büro lag außerhalb des Zentrums und war schon von Militär umstellt. Wir mussten alle mit dem Gesicht zur Wand stehen. Dann wurde das Büro durchsucht und dabei halb verwüstet, und ich bin wieder ins Zentrum zurück. Kurz danach wurde ein Ausgehverbot für fünf Tage verhängt. Darauf konnte man wieder die Häuser verlassen.

Wie war die Asyl-Situation in der Botschaft in Santiago?
Kaltenegger: Anfänglich wurde dort niemand aufgenommen, auf Anweisung des damaligen Botschafters, außerdem wollte ich das Land eh nicht verlassen. Es wurde für mich allerdings notwendig, jede Nacht woanders zu schlafen. Eine Zeit lang lebte ich im Untergrund. Doch es wurde immer enger, die Verfolger kamen näher. Mir wurde von allen geraten, nun doch die Botschaft aufzusuchen; inzwischen hatte die österreichische Rgeierung (unter Kreisky) den Botschafter ausgetauscht. Es war aber nicht leicht, hinein zu kommen. Sie war wie alle Botschaften von Militär umstellt. Im Auto eines Konsularangestellten hab ich es dann doch geschafft, ich bin gut angezogen im Fond gesessen, so hat man uns passieren lassen.

Wie war es, im November 1973 Chile zu verlassen?
Kaltenegger: Gemischt. Einerseits das Gefühl, gerettet zu sein, andererseits Trauer und Wut über das, was geschehen war. Dass es ein Abschied für ewig sein würde, hätte ich mir nicht gedacht. Klar hätte ich gerne weiter gearbeitet, ich war mitten in einem riesigen Aufforstungs-und Erosionsbekämpfungsprojekt.

Wie schätzen Sie die Politik der Linken in Chile aus heutiger Sicht ein?
Kaltenegger: Gegenfrage: Welche Linke? Mein Gott na, naiv war sie halt, die UP, ... als hätte man unterschätzt, wie bösartig und mächtig ausländische Konzerne und die einheimische Bourgeoisie sein können. Es war leider auch ein bissl träumerisch. Ein Tupamaro, der aus Uruguay geflüchtet war, hat mir damals gesagt: ihr seid's Kinder, ihr seid's arglos, das ist eurer größter Fehler. Ich glaube, das hat gestimmt.

Es gibt seit einiger Zeit "revisionistische" Ansätze, die Streitereien innerhalb der Allende-Front zumindest eine Teilschuld am Misslingen der Politik geben. Auch von einem Allende-Mythos wird gesprochen (siehe dazu den Beitrag links). Was halten Sie von diesen Betrachtungsweisen?
Kaltenegger: Bekannt sind mir diese Sachen schon. Man muss sagen: Die UP war nur an der Regierung, sie hatte nicht die Mehrheit im Parlament, die Gerichtsbarkeit war nicht unter ihrer Kontrolle. Es gab von September 1970 an gezielte Destabilisierungsmaßnahmen, von außen und von innen getragen. Aber sicher nicht von innerhalb der UP. Das ist ja klar. Und wenn ein Land destabilisiert wird, dann kann eine kleine Regierung nicht viel dagegen machen. Damit kann man ein Land ganz einfach kaputtmachen. Schauen Sie sich die spanische Republik in den 30er Jahren an: Die haben auch nichts machen können. []

Marie Luise Kaltenegger, Chile. Dokumentation einer Diktatur, 288 Seiten. Jugend & Volk, Wien München 1974 (vergriffen).