Ronald Pohl

Wien - Unter der makellosen Oberfläche puritanischer Reinheitsbedürfnisse schlummert ein hässliches, von Trieben entstelltes Gesicht - von dieser wenig überraschenden Entdeckung zehrt die Industrie der (Off-)Broadway-Komödien, die mit der großen Not der unausgelebten Triebe ihre kleinen, schmutzigen Witze machen.

Als dankbarer Abnehmer dieser Verklemmungsspiele verstehen sich seit jeher die Kammerspiele des Josefstadt-Theaters. Hier, in diesem Auerbach-Keller der bourgeoisen Selbstbelustigung, lacht man sich die Sorgenfalten und Einkerbungen eines entbehrungsreichen Lebens sozusagen bügelglatt. Die Komödie 37 Ansichtskarten des US- Schauspieler-Autors Michael McKeever, mit der Neo-Prinzipal Hans Gratzer nach außen hin möglichst fugendicht an die Direktionszeiten von Franz Stoß und Otto Schenk anschließt, enthält indes einige bedeutende analytische Schönheiten, die es über den platten Pension Schöller-Mechanismus erheben.

Ein "verlorener Sohn" (Alexander Braunshör) kehrt nach europäischen Wanderjahren mit seiner Verlobten (Lana Cencic) in den dottergelb lackierten Familienhaushalt zurück. Die Welt ist, bei peinlicher Wahrung des Dekorums, völlig aus den Fugen:

Ein karottenhaariges Mutterwesen (Tatja Seibt) schwebt und ruckt wie ein am Gefieder verletzter Flamingo durch die Katastrophenwirtschaft eines allmählich im Treibsand versinkenden Hauses, während der zum Tode erkrankte Vater (Franz Robert Wagner) den nächtens Golf spielenden Landlord gibt, das Tantchen (Gertrud Roll) Muffins bäckt und mit Pensionisten neckische Telefonsexspielchen treibt - freilich mit einer Grandezza, als würde sie das Rezept für ein Soufflé an Wüstlinge verraten.
Familiäre Todesfälle werden nicht zur Kenntnis genommen. Zotige Großmütter mit Buddy-Hollie-Sturmfrisuren (Monika John ) ergehen sich in liederlichsten Saft-und Kraftausdrücken. Und während die Lachfreudigkeit des Publikums mit Fortdauer des Abends rasend abnimmt, fällt auch Regisseur Gratzer dem Schwungrad der höchst gedankenreichen Komödie milde in die Speichen.
Erst die Gegenwart der Erinnerung schafft die Einsicht in die Unhaltbarkeit von Verhältnissen, die Komödienspielern ein eckiges, keineswegs zu verlachendes Charisma abnötigen, ein scheiterndes Ethos des unbedingten Durchhaltewillens.

Mag sein, dass Gratzer, der sich parallel noch an seiner großen Nestroy-Premiere abmüht, dieses herbstliche Tönen und schmerzliche Tändeln, dieses harmvolle Angststarren im angesagten Auflachen, eher widerfahren ist. 37 Ansichtskarten ist keine wirklich bedeutende Arbeit. Als erster Trittstein zur Neupositionierung der Kammerspiele als Zauberkeller, in dem man die menschlichen Verluste schmunzelnd-wehmütig zusammenzählt, mag der holde Schmonzes immerhin taugen.