Downtown Switzerland", "Size XXL", "Boomtown" - was haben die ZürcherInnen in letzter Zeit nicht für Begriffe gefunden, um ihre Kleinstadt zur Metropole hochzuloben. Nur keine falsche Bescheidenheit: Zürich soll hypermodern, ultracool und "huregeil" sein. Stolz vermeldet das Magazin des Tagesanzeiger, dass die Schweizer Finanzmetropole in einem britischen Städtevergleich hinter den Alpha-Städten London und New York einen Beta-Platz belege, so wie Seoul oder Sydney. Nun mache die Stadt alles, "um nicht Gamma zu werden. Oder Wien."

Kein Zweifel: In Zürich zu leben hat Charme. Schöne Menschen überall, Büros in bester Lage mit Seeblick, Wohnungen im schicken Quartier "Limmat-West" mit Blick auf die Zentralalpen, das Flussbad in Fußdistanz, der Flughafen ist mit der Bahn in 10 Minuten zu erreichen. Bloß: Bei all dem Selbstlob und der Bewunderung für ihre Stadt vergessen die Zürcher und Zürcherinnen offenbar ihre Mitmenschen. Paaren wollen sie sich immer seltener, vermehren schon gar nicht.

Singlehauptstadt

Noch ein Superlativ: Zürich ist die Singlehauptstadt der Schweiz. In fast jedem zweiten Haushalt lebt nach der Volkszählung aus dem Jahr 2000 nur eine Person. Gegenüber der Volkszählung 1990 gibt es um über 12 Prozent mehr Haushalte mit Paaren ohne Kinder. Zürcher Frauen wollten eben keinen Nachwuchs mehr, weil "die Vereinbarkeit von Beruf und Familie schwierig ist", sagt der Ethnologe Frank Beat Keller, dessen Wanderausstellung "Kleine Kinder - Lust und Last" zur Zeit im Zürcher Stadthaus zu sehen ist. Das freilich gilt für die gesamte Schweiz. Bis heute leben die Eidgenossen nach dem Grundsatz: Bis zur Schulpflicht der Kinder ist die Familie absolute Privatsache. "Der Staat hält sich raus", so Frank Beat Keller, "und die Schweizer und Schweizerinnen finden das richtig so, sonst würden sie anders wählen und abstimmen."

Mutterschaftsversicherung

1948 wurde in der helvetischen Verfassung der Auftrag an die Politik verankert, eine Mutterschaftsversicherung zu schaffen, was in Österreich der Kombination Karenz und Kindergeld entsprechen würde. Bis heute ist dieser Auftrag nicht erfüllt worden. Den bislang letzten Entwurf lehnten 1999 in einer Volksabstimmung 61 Prozent der Schweizer Stimmbürger ab: zu teuer, meinten sie, und zu bürokratisch. Für kommendes Jahr ist ein neuer Vorstoß geplant, und schon droht die ultrakonservative Schweizer Volkspartei mit einem Referendum gegen die "Ausplünderung der BürgerInnen".

Die einzige gesetzliche Absicherung für Frauen ist das so genannte Obligationenrecht: Darin werden Krankheit, Schwangerschaft und Mutterschutz gleich gesetzt. Eine Frau hat nach zwei Jahren Arbeit, beispielsweise, Anrecht auf acht Wochen bezahlten Krankenstand oder bezahlten Urlaub vor und nach der Geburt. Mehr bekommt sie nicht. Ist sie schwanger und während der Schwangerschaft sechs Wochen krank, bleiben ihr nach der Geburt eben nur mehr zwei bezahlte Wochen. "Wenn eine Frau nicht sofort nach der Geburt ihres Kindes einen Baby-Betreuungsplatz findet, fliegt sie raus aus dem Arbeitsmarkt", ist die bittere Erfahrung von Dore Heim, der Leiterin des Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann der Stadt Zürich.

Zürich ist Zentrum der Banken, Werbeagenturen, Medienunternehmen - Branchen, in denen 120 prozentiger Einsatz verlangt wird. Teilzeitarbeit ist für Männer absolut unüblich und unerwünscht. Also gibt entweder die Frau ihre Karrierepläne auf - oder die Familiengründung wird auf später verschoben.

Hürde Wohnung

Wer sich aber doch auf das Abenteuer Familie einlässt, dem stellt die "XXL-Stadt" zusätzlich Hürden in den Weg. Die höchste heißt: Wohnung.

Zürcher Wohnungen sind klein, schlecht ausgestattet und maßlos überteuert. Familien, die auf mehr als 60 Quadratmeter zu einem Preis unter 2000 (rund 1300 Euro) Franken wohnen wollen, suchen am besten gleich in der "Agglomeration" - den gesichtslosen Vororten rund um Stadt und See namens Wetzikon, Männedorf oder Wallisellen: Nette Reihenhäuser in Grünlage voller frustrierter, gelangweilter Mütter, die abends auf dem S-Bahnhof mit dem kleinen Reto an der Hand die Rückkehr des Mannes aus dem Innenstadtbüro erwarten.

Problem Kinderbetreuung

Und dann gibt es noch das leidige Problem mit der Kinderbetreuung. Anna hat zwei Kinder im Alter von 3 Jahren und 5 Monaten. Ihr Mann verdient bei einer Consulting-Firma selbst für Zürcher Verhältnisse gut. Dennoch musste die Familie eine Wohnung 20 Kilometer außerhalb der Stadt nehmen. Und auch jetzt können sie nicht prassen: Die Kinderkrippe für die Ältere kostet 93 Franken (63 Euro) pro Tag, ist nur von 9 bis 15 Uhr offen und ein Tag in der Woche überhaupt geschlossen. Für einen Teilzeitjob in der Stadt wird die Zeit zu knapp. Und in der "Agglo" gibt es keine Jobs. Annas Fazit: "Mit einem Kind in Zürich bist du nur mehr Mutter. Dein Leben als Frau kannst du aufgeben."

Luxusgut Kinder

Zwar gibt es in der Stadt Zürich ein größeres Angebot an Kinderbetreuungsplätzen als in der übrigen Deutschschweiz. Aber das Zürcher Gleichstellungsbüro machte bei seiner großen Mütter- und Väter-Befragung im vergangenen Frühjahr eine erstaunliche Entdeckung: Einen Kindergartenplatz leisten konnten sich nur Unterschichtfamilien, die staatliche Unterstützung erhalten, und wirkliche GroßverdienerInnen. Wirklich schwierig wird die Kinderbetreuung für den Mittelstand. Die größte Schicht der Zürcher Bevölkerung verdient mit einem Jahreseinkommen von 70 000 bis 100 000 Franken zu viel, um Subventionen zu bekommen, und zu wenig, um sich für den Nachwuchs eine täglich Betreuung leisten zu können. In der Stadt Zürich, so das Nachrichtenmagazin Facts über das Ergebnis der Studie, sei eine Familie mit einem durchschnittlichen Einkommen schwer durchzubringen: "Kinder sind zu einem Luxusgut eworden". (DER STANDARD, Printausgabe 20./21.09.2003)