Bedroht der neue Leiter der Diagonale aus blinder Gier am schnöden Mammon die Aura der heimischen Filmkunst? Und was ist das überhaupt: der österreichische Film?


Was haben Theodor W. Adorno und die Neubesetzung der Diagonale-Leitung gemein? Mehr als man im ersten Augenblick annehmen könnte. Adorno sah in der Kulturindustrie jenen Kitt, der die aus seiner Sicht antagonistische kapitalistische Gesellschaft zusammenhält. Indem man aus kreativen Leistungen des Geistes kulturelle Produkte des Marktes mache, stütze man das herrschende marktwirtschaftliche System. Vornehmste Aufgabe des Künstlers sei es daher, diesem Markt zu widerstehen und sein Widerpart zu sein. Und Walter Benjamin warnte gar davor, dass das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit seine künstlerische Aura verliert und beliebig wird.

Teile der österreichischen Filmschaffenden könnten bei "den Frankfurtern" in die Schule gegangen sein. Seit er vor sechs Wochen die Leitung des Grazer Filmfestivals und Diagonale operativ übernommen hat, scheint es fast, als würde ein Fuchs namens Tillman mit geldgierigen Augen die Aura des österreichischen Films bedrohen: Der neue kaufmännische Leiter der Diagonale und sein künstlerisches Pendant, der serbische Filmveteran Miroljub Vuckovic sind kaum angetreten, schon ist allenthalben von Boykottaufrufen und Gegenveranstaltungen zu lesen.

Die Bestellung eines kaufmännischen Leiters per se und seine Ansage, ein Drittel des Budgets über Sponsorengelder zu decken, scheint Anlass genug, das dumpfe Gefühl des Unbehagens in offene Feindschaft umschlagen zu lassen. Schließlich sitzen u.a. mit der lokalen Styria-Gruppe noch jene Vertreter des Medienkapitals in den Gremien, die im Verbund mit dem ehemaligen Geschäftsführer des ersten österreichischen Privatfernsehsenders ganz, ganz sicher dem künstlerischen Widerstand den Garaus machen wollen! Hie böse Kulturindustrie, da gute Avantgarde.

Verwirrende Gleichung

Morak, der Steirer, hat für die Grazer Diagonale und ihr vorwiegend einheimisches Publikum Neuerungen finanzieller und personeller Natur im Auge. Manche misstrauische Vertreter sehen das a priori als Kampfansage.

So ein Staatssekretär hat es auch schwer. Kürzt er dem Film aus budgetärer Not die Mittel, schreit die Branche. Erhöht er sie – wie im Falle der Diagonale –, wittert man die Gefahr des kommerziellen und politischen Ausverkaufs. Mehr Geld für die Diagonale = geringere Beteiligung österreichischer Filmschaffender – eine Gleichung, die in der Tat verwirrt. Eine Branche die trotz allgemeiner Sparzwänge dank des neuverhandelten Fernsehfilmabkommens mit dem ORF und der Schaffung eines mit 7,5 Mrd. Euro dotierten Fernsehfilmförderungsfonds aus dem Vollen schöpft, kann sich schwerlich als Opfer der derzeitigen Regierung sehen. Es sei denn, die Annahme der Opferrolle ist ideologischer Natur.

Was ist in Sachen Diagonale bisher tatsächlich geschehen? Das Budget wurde mit 1,5 Millionen Euro und weiteren Preisgeldern in der Höhe von 300.000 Euro nahezu verdoppelt, wobei die Hälfte dieser Erhöhung aus bisher nicht lukrierten Sponsorengeldern kommen soll. Private Quellen in größerem Rahmen anzuzapfen hatte ja die abgelöste Führung bisher verabsäumt.

Mir san mir?

Weiters will man vermehrt über den heimischen Tellerrand blicken und neben österreichischen Filmen neue südosteuropäische Produktionen im Verhältnis 70 zu 30 zeigen. Da das Festival außerdem von 6 auf 9 Tage um das Eineinhalbfache verlängert wurde, bleibt die Menge an gezeigtem österreichischen Filmen in etwa gleich.

Doch wenn man die Diskussionen der letzten Tage verfolgt, ist gerade diese Öffnung nach Europa ein Hauptkritikpunkt. Manche Vertreter der heimischen Filmszene akzeptieren offenbar nur eine aus ihrer Mitte bestellte Festivalleitung, die dem österreichischen, und nur dem österreichischen Film huldigt. Man kocht seine eigene Suppe und schmort im eigen Saft.

Wüsste man es nicht besser, nämlich dass die meisten Filmemacher offene, demokratische und dem Leben zugewandte Künstler sind, könnte man meinen, die Vorwürfe gegen die neue Leitung entsprächen einer dumpfen nationalistischen Grundgesinnung. "Mir san mir", könnte man da denken, und "wir lassen uns doch von einem zwar deutsch-verstehenden, aber englisch-sprechenden (!) Serben (!!) aus dem Ausland (!!!) den guten österreichischen Film kaputt machen". Und man könnte glauben, wer sich in Regierungsnähe künstlerisch betätigt, stimme zu und mache sich verdächtig wie weiland Leni Riefenstahl (dieser Vergleich fiel tatsächlich kürzlich auf einer Diskussionsveranstaltung in Wolfgang Zinggls "Depot").

Was Demokratie ist und wo ein Filmemacher seine Filme zeigen soll, bestimmen einzelne laute Exponenten. Der Rest stimmt zwar vielleicht nicht zu, schweigt aber in der Angst um seine "screen credibility". Könnte man da denken, wüsste man es nicht besser. Denn Diagonale heißt ja auch Querschnitt, und der österreichische ging und geht halt quer durch Europa und hat einen, wenn nicht seinen Schwerpunkt in Südosteuropa. Sich mit dem zu messen und zu vergleichen ist spannend, nicht gefährlich. Auch für den österreichischen Film.

Was aber ist eigentlich das Österreichische am österreichischen Film? Dass er in Österreich gedreht wird? Österreichische Schauspieler zu Wort kommen lässt? Österreichische Regisseure und Produzenten ans Werk gehen? Österreichische Themen und Inhalte behandelt? Oder dass man auf gut österreichisch allen strukturellen Veränderungen von vornherein mit Argwohn begegnet?

Und wo steht der österreichische Film? Geht es nach Preisen auf internationalen Festivals, ist er eine Weltmacht. Geht es nach Akzeptanz beim heimischen Massenpublikum und wirtschaftlichem Erfolg, sieht es oft weniger gut aus. Wie also kann man die richtige Balance finden zwischen künstlerischem Anspruch und Rücksichtnahme auf die Erfordernisse des Marktes? Und wäre es nicht lohnend, diese Frage gerade aus der mittel- und südosteuropäischen Perspektive zu diskutieren?

Technische Reproduzierbarkeit und Breitenwirkung sind nun einmal ein Merkmal des zeitgenössischen Films. Filme, die kein Publikum finden, sind bloß elitäre Denksportaufgaben; Filmemacher, die sich ihrem Publikum verweigern und nur für Gleichgesinnte produzieren, müssen sich den Vorwurf intellektueller Engstirnigkeit gefallen lassen; und Filmemacher, die sich nur mit einheimischen Konkurrenten messen wollen, werden es im vereinten, erweiterten Europa zunehmend schwer haben.

Manchmal reitet eben auch die beste Avantgarde als Vorhut in die Irre. (DER STANDARD, Printausgabe, 27./28. 9.2003)