Ningen jôhatsu
(A Man Vanishes)
von Imamura Shôhei

Foto: Filmmuseum
Wien – "Werden die Modernisten eine Bresche schlagen", fragte sich der japanische Filmemacher Nagisa Oshima 1958 in einem Aufsatz. Er meinte damit naturgemäß zuallererst ihren langen Atem, den Mut zur Innovation. Mindestens genauso entscheidend waren jedoch für Japans Neue Welle, die ihre Erneuerung anders als in Europa in Studios begonnen hatte, die ökonomischen Voraussetzungen, um überhaupt weiter "unabhängige" Filme drehen zu können.

Mit der Gründung der Art Theatre Guild (ATG) im Jahr 1961 wurde dafür ein Grundstein gelegt: Als untypischer Verleih, der über eine Reihe von Programmkinos verfügte, brachte sie erstmals künstlerische Arbeiten nach Japan. Nicht nur Klassiker, sondern auch die jüngsten Ketzer (Godard, Munk, Cassavetes u. a.), Avantgarde und japanische Filme – in Ermangelung einer Cinemathek wichtige filmkulturelle Aufbauarbeit.

1967 beschloss man, auch in die Produktion einzusteigen. Mit relativ kleinen Budgets, dafür langer Kinolaufzeit, um so dem jungen Kino eine Basis zu sichern. Die vom Wiener Japanologen Roland Domenigg kenntnisreich kuratierte Viennale-Retrospektive versammelt gewissermaßen die Ergebnisse dieser Bemühungen: Schon in den ersten Jahren wurde ATG zur Heimstatt für die Regisseure der Neuen Welle. Oshima realisierte mit Kôshikei/Death by Hanging (1968) eine seiner verstörendsten Arbeiten, Filmemacher wie Susumu Hani attackierten mit neuer Freiheit die erstarrten Verhältnisse der "offiziellen" Kultur.

Hatsukoi jigoku-hen/Nanami: The Inferno of First Love (1968), ein Schlüsselwerk Ha 2. Spalte nis, ist das Melodram zweier unschuldiger Teenager. Vom Dokumentarfilm kommend, inszeniert Hani jedoch kein lineares Drama, sondern einen traumhaften Reigen, in dem sich Erinnerungsbilder unter Hypnose mit bizarren Körperposen bei Foto-Shootings verbinden – bis Innen- und Außenwelten ununterscheidbar werden und sich zum Bild einer immer noch autoritären Gesellschaft verdichten.

Ekstatische Engel

Eine Besonderheit des japanischen Kinos sind "pink eiga" – Softsexfilme, die zwar eine bestimmte Anzahl an Aktszenen beinhalten müssen, aber ansonsten keinen Einschränkungen gehorchen. Kôji Wakamatsu war bereits Veteran auf diesem Gebiet, als er seinen ersten ATG-Film produzierte. Tenshi no kôkotsu/Ecstasy of the Angels (1972) wurde auf Anhieb zum Skandal: Er beginnt als unterkühlter Film noir mit dem Überfall einer Gruppe von Anarchisten auf ein US-Munitionsdepot. Gleich darauf gerät jedoch der Erzählfluss ins Stocken, denn Wakamatsu interessiert sich nur wenig für deren Taten. Vielmehr verlegt er sein Augenmerk auf die internen Querelen der Gruppe (und ihren Machtkampf mit einer größeren Organisation) und protokolliert in statischen Szenen, in denen Sexualität beständig in Gewalt übergeht, ihren kontinuierlichen Verfall.

Seine Verhandlung von fragilen Identitäten, radikaler Politik und eben Sexualität wurde mit Oshima verglichen; zugleich nahm der Film den Bombenterror linker Aktivisten vorweg: Ecstasy of the ^Angels, in kontrastreichem Schwarz-Weiß mit kurzen Farbeinschüben gedreht, gibt sich jedoch keiner Utopie hin. Seine Diagnose einer gewaltbereiten Jugend endet im Bild der Agonie, was hier weniger an der Gesellschaft als an Strukturen der revolutionären Gruppe liegt.

Im Lauf der 70er-Jahre verschob sich der Fokus von ATG weg von der Neuen Welle und betont politischen Themen hin zur Förderung von Debütanten: Kazuhiko Hasegawas Seishun no satsujinsha/Young Murderer (1976), einer der beeindruckendsten Erstlingsfilme, behält dabei den Topos Generationskonflikt bei, denkbar kompromisslos. Das erste Segment zeigt nichts anderes als eine lange, blutige Auseinandersetzung des jungen Jun mit seinen Eltern, aus der er als Doppelmörder hervorgeht.

Hasegawas Mise-en-scène, seine Verwendung von Farben und Gitarrenpopsongs setzen vor allem durch ihre Unbeschwertheit starke Kontraste. Er heroisiert zwar seine Helden nicht, aber er stattet ihre Taten, ähnlich wie Godard in Pierrot le fou, mit einer gewissen Unschuld aus. Young Murderer übt Gesellschaftskritik wie eine Popballade, die vom 4. Spalte ewigen Aufbegehren gegen die Älteren erzählt.

Als in den 80ern sukzessive andere unabhängige Produktionsfirmen in Konkurrenz zu ATG traten, erübrigte sich deren Rolle als Förderinstitution allmählich. Wiewohl noch 1984, kurz vor dem Ende, zwei Regisseure, Jûzô Itami und Sôgô Ishii, die weiter bedeutsam bleiben sollten, ihre Debüts dort realisieren konnten: Ishiis Gyakufunsha kazoku/Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb ist bereits ganz im beschleunigten Kapitalismus dieser Zeit angekommen – und auf engstem Terrain und mit comichaften Einfällen führt er vor, dass die sehr japanische Mischung aus Tradition und Postmoderne besonders explosiv ist.

Die Retrospektive, die großteils hierzulande noch völlig unbekannte Arbeiten vorstellt und in deren Rahmen auch einzelne Protagonisten der ATG-Ära zu Gast sein werden, ist bis 30. 10. im Filmmuseum zu sehen. (DER STANDARD, Printausgabe vom 4./5.10.2003)