Norwegens Küsten im Spätherbst. Die Dunkelheit über den Wassern der Fjorde lichtet sich nur für Stunden zu dämmerigem Zwielicht. Konturen vergehen in lichtlosem Nebel. Die Außenwelt verliert an Präzision.

Es sind jene diffusen Stimmungen an der Grenzlinie von Tag und Nacht, von Wachen und Traum, von Realität und Wahn, in die der norwegische Autor Jon Fosse seine leisen Texte einschreibt. In ihrer schwebenden, schwer fassbaren Struktur ähneln die fragilen Satzgewebe selbst den flüchtigen Schleiern verdunstender Nässe, die der Wind zu immer neuen Gestalten bläst.

Stärker noch als selbst bei Ödön von Horváth lastet in seinen Dramen die Stille des Unausgesprochenen, Unsagbaren klamm zwischen den Figuren. Die wenigen Worte, die die verstummten Fosse-Menschen sich entringen, verfehlen ihr Gegenüber und fahren in die düstere Leere, die ihren starren Blick gefangen hält.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass die Dramen des Norwegers seit wenigen Jahren zu den meistinszenierten, meistgespielten zählen auf Europas Bühnen. In vieler Hinsicht verkörpern sie die genaue Antithese zu jenem Unbehagen an der Gegenwart, das sich an den Wortfluten medialer Simulationen, am Lärmpegel und der beklemmenden Geheimnislosigkeit des inszenierten Alltags entzündet.

Fosse reduziert Situationen, Sprache, Konflikte auf das reine Substrat menschlicher Glücks-Sehnsucht. Nähe, Liebe, Geborgenheit scheinen die einfachen Menschen seiner Texte im Inneren ihrer Sprachlosigkeit zu begehren, jedes ihrer Worte aber stößt das Ersehnte eine Handbreit jenseits des Erreichbaren.

Fosses Prosatexte stellen gewissermaßen die Negative dar zur stummen Außenwelt der Dramen. Sie tauchen ins Innere der Einsamen, registrieren die Flut der Gedanken, die in obsessivem Brausen die Objekte ihrer Sehnsucht umkreist. So ist Das ist Alise, die hundert luftig gesetzte Seiten kurze Novelle, die nun im marebuchverlag erschien, das passgenaue Gegenstück zu Sommertag, einem Dramentext, der vor zwei Jahren an der Berliner Schaubühne eine erste szenische Lesung erlebte.

Die Grundkonstellation ist ident: In vollkommener Abgeschiedenheit lebt das junge Paar Signe und Asle in einem alten Haus an der Küste. Die permanente Stille der Natur steigert die Sprachlosigkeit des Paares zu dröhnendem Schweigen. Dem sich Asle entzieht, der täglich im Ruderboot hinausfährt auf die Wasser des Fjords - während Signe Stunde um Stunde am Fenster steht, fixiert auf die Rückkehr des Mannes. Bis der eines dunklen Herbsttages verschwunden bleibt, das Boot leer im Wasser treibt.

Im Drama wie in der Novelle überlagern sich die Zeiten, steht Signe zwanzig Jahre später noch immer am Fenster, hält Ausschau nach Asle, der nicht zurück kam. Die Novelle aber lässt noch andere Bewohner des Hauses aus Signes Gedanken erstehen, Alise, Asles Ururgroßmutter, ihren Sohn, der siebenjährig in den Fluten ertrank. In nahezu einem einzigen, einhundert Seiten langen, liedhaft feinen Satzfaden wechseln verwirrend - oder verwirrt - die Subjekte, taucht Vergangenes aus den dunklen Wassern des Fjords, um kurz darauf wieder in ihnen zu versinken. Eine zärtliche, tieftraurige norwegische Wintermär. (DER STANDARD; Printausgabe, 18.10.2003)