"Hallo, hier Schütte. Entschuldigen Sie, ich bin gerade in einem Interview. Rufen Sie mich am Nachmittag an." Die Hundertjährige im routinierten Ton einer öffentlichen Person. Margarete Schütte-Lihotzky, die Doyenne der österreichischen ArchitektInnen, überspielt die Anstrengung ob des Rummels eines besonders hohen Geburtstags. Unlängst hat sogar die Kärntner Kirchenzeitung um ein Gespräch gebeten. Na, ja." Den STANDARD-Fotografen Rudolf Semotan fragt sie, wie sie am besten sitzen sollte - und wie man den Interviewer im Ensemble gruppieren könnte: Die Architektin arrangiert die Szene und erwartet die Fragen, die sie faktisch druckreif beantwortet. DER STANDARD: Sie haben sich, ob in der Architektur oder in der Politik, immer auf soziale Fragen konzentriert. Wie ist dieser Anspruch entstanden? Schütte: Ich bin im fünften Wiener Bezirk aufgewachsen. Und meine Eltern haben mich in eine ganz normale Volksschule in der Phorusgasse geschickt. Aber vom Leben der Arbeiter wußte ich nichts. Als ich mich dann an der Schule am Stubenring an einem Wettbewerb für Arbeiterwohnungen beteiligt habe, bin ich in die Außenbezirke gegangen, um die dortige Situation kennenzulernen. Das war der Anfang meines Engagements auf dieser Seite. DER STANDARD: Und theoretisch? Schütte: Viele, viele Anregungen. Aber ich erinnere mich auch noch genau daran, als mir Otto Neurath (der Kulturphilosoph und Erfinder der modernen Zeichensprache. Anm.d.Red.) Anfang der 20er Jahre das Kommunistische Manifest zu lesen gab. Das war schon was Besonderes. DER STANDARD: Das spielte sich bereits während Ihrer Arbeit in der Siedlerbewegung ab. Wie sahen die Anforderungen aus? Schütte: Zunächst der Hintergrund, diese ungeheure Wohnungsnot nach dem Krieg. Ich erinnere mich noch an eine Demonstration, als tausende Leute auf der Ringstraße waren und nicht nur die Schaffung von Wohnraum, sondern auch Baumaterial günstig haben wollten. Da bot sich uns, das war ja völlig neu, das schwedische Beispiel an: Aus Steuermitteln für die breite Bevölkerung billige Wohnungen zu bauen. Denn bis dorthin gab es in Wien ja nur jene Zinshäuser, die immer schon Objekte der Spekulation waren. DER STANDARD: Sie haben damals auch mit Adolf Loos arbeiten können. Zum Unterschied von Ihrem Lehrer Oskar Strnad waren Sie jedoch nicht mit allem einverstanden, was Loos vertrat. Schütte: Er war natürlich ein großer Architekt. Trotzdem habe ich ihm, ganz abgesehen von seinem Antisemitismus, auch in der Sache manchmal widersprochen. DER STANDARD: Sie können sich sicher noch an eine dieser Differenzen erinnern. Schütte: Es drehte sich zum Beispiel um die Frage der Stiegenaufgänge in einem Arbeiterwohnhaus. Für gewöhnlich ging man ja vom Vorhaus ins erste Stockwerk. Loos aber sagte, man müsse die Stiege aus dem Wohnzimmer hinaufführen, das fördere den Zusammenhalt der Familie. Meine Ansicht war, daß dadurch im Winter zuviel Wärme ins obere Stockwerk dringt und die Heizkosten steigen. Für Arbeiter ein Problem. Loos antwortete, in England machten das alle. Nicht alle, gab ich zurück, sondern nur die Reicheren. DER STANDARD: Wie müßten heutzutage solche Wohnbauten idealerweise aussehen? Schütte: Schauen Sie, schon Loos hat erkannt, daß Häuser mit größeren Gärten zu aufwendig sein würden. Von der Finanzierung her, aber auch wegen des Arbeitsaufwands. Deshalb hat ja Loos schon vereinzelt Dachgärten entworfen. Aber das war damals enorm teuer, man hat ja kein gutes Dichtungsmaterial gehabt. Für den Wohnbau kam das also nicht in Frage. Heute ist das anders. Daher halte ich das Terrassenhaus für die Wohnform der Zukunft. DER STANDARD: Auch für Österreich? Schütte: Natürlich. Ich gehe noch weiter und schlage begrünte Wohnberge vor. Da durchschneiden keine Wolkenkratzer die Landschaft. Man baut auf diesen Hängen die Wohnterassen und ordnet innen drinnen die zentralen Funktionen, zum Beispiel die Autogaragen. DER STANDARD: Sie gehören zu jenen ArchitektInnen, die sich bis ins Detail auch um Möbel gekümmert haben. Die Frankfurter Küche ist ja nur eines der Beispiele. Man könnte Sie zu den Erfindern der Modulmöbel rechnen. IKEA und KIKA wurden durch Sie erst möglich. Schütte: Drum habe ich ja von IKEA einen Preis erhalten. Die haben das erkannt. Bei den Überlegungen ging es um zwei Sachen. Erstens war die Zunahme der Mobilität schon erkennbar. Also überlegte ich bereits in den frühen zwanziger Jahren, die Möbel bei Neubauten so fix einzuplanen, daß die Leute nur noch mit Tisch und Sessel übersiedeln mußten. Ich habe Betonküchen entworfen, die man mittels Kränen in die Häuser einsetzen hätte können. Dazu kommt eine zweite Sache: Ich habe berechnet, daß wir bis zu 30 Prozent Wohnfläche sparen, wenn wir die Möbel fix mitvermieten. So ist der Begriff vom raumangepaßten Möbel entstanden. DER STANDARD: Eine reine Funktionalistin sind Sie trotzdem nicht. Wenn man Ihre frühen Wohnhäuser ansieht, und die Einrichtung dazu, könnte man sogar von einem Zug zur Romantik sprechen. Schütte: Der Begriff Funktionalismus ist überhaupt irreführend. Wenn die Funktionsfrage in der jeweiligen Architektur gelöst wird, ist noch längst nicht alles geschehen. Auch mir sind die Proportionen wichtig, die Belichtung, die Gestaltung insgesamt. Da fängt´s erst richtig an. DER STANDARD: Romantik nicht nur im Gegensatz zum Funktionalismus, sondern durchaus als Komponente zum Wohlfühlen. Schütte: Auf jeden Fall. Die Architekten schaffen Räume, in denen sich die Menschen bewegen müssen. Ob sie wollen oder nicht. Und da entscheidet der Architekt darüber, ob sie sich wohlfühlen oder ob Mißbehagen entsteht. Und da war ich immer, stärker von Strnad als von Loos beeinflußt, für eine Gestaltung, die das Gefühl beinhaltet.