Coverfoto: Gomma
Tower power, Trauerpower : Bitterböse ist das Lied von der "Deportation Class", deren Passagiere auf dem Landweg kamen und an Grenzen stießen, also scheidet man sie oben wieder aus ... in einem Lufthansa-Flieger - angezogen von einem Magnet, ausgezogen von einem Beamten des Bundesgrenzschutz ...

Spann mich bitte ein in deine Bandmaschine ...

Kamerakino sind keine der auch hier recht gerne besprochenen Neo-NDW-Bands - aber näher am Geist der Neuen Deutschen Welle dran als Mia, Spillsbury oder - wenn man denn gar nicht dran vorbei kommen will - Wir Sind Helden. Während die sich in technisch perfekter, auf Tanzbarkeit bedachter und kalorienreicher Produktion ergehen, kratzt und zuckt das Münchner Underground-Kollektiv um den Halbspanier Federico Sánchez in widerborstiger Vielseitigkeit.

Ihre Herangehensweise an Musik ist Punk (sprich: scheiß drauf, wir probieren's einfach), das Instrumentarium dazu wird aus der Folklore gegriffen. Und ist bei einer multikulturellen Band mit spanischen, deutschen, türkischen, russischen und schottischen Anteilen - geschweige denn diverse Gastauftretende - entsprechend groß; bandinterne Instrumentenrotation gleich inklusive. Neben dem obligatorischen Gitarre/Bass/Schlagzeug-Kern tönt also so ziemlich alles vom Akkordeon über die Geige, Melodica, Posaune, Orgel und den Synthesizer bis zum Waschbrett. Zwischendurch auch mal im Dreivierteltakt.

Lässt die Mischung aus internationaler Folklore, Polka und Wellenpop an F.S.K. (abzüglich deren Vorliebe für Americana) oder Poems for Laila denken, führt die Einbeziehung der Textebene endgültig bis in die Beginnzeit der NDW zurück: zu deren schrägeren Kindern wie Neues Deutschland, die Kapazität oder the Wirtschaftswunder nämlich.

Schau mich bitte an mit deinen Fernsehaugen ...

Bissige Gesellschaftskritik kam hier nicht mehr nach Liedermacherart wortreich elaboriert, sondern als abgehacktes und parolenartig geschrieenes Wirrwarr von Sprachfetzen daher - gespeist aus Werbung, Nachrichten und kitschigem Unterhaltungs-TV, die mediale Dauerbeschallung durch Überspitzung reflektierend. Nach zwei Jahrzehnten und einer quantitativen Verdutzendfachung des Medienangebots ein noch unerschöpflicheres Reservoir, aus dem heute aber außer Sample-suchenden HipHoppern keiner so recht zu schöpfen gewillt ist.

Manchmal - siehe Rezensionbeginn - äußern sich Kamerakino explizit politisch, manchmal frönen sie purem Nonsense. Und ziemlich viel steht irgendwo dazwischen, die Sinnfindung zur freien Entnahme: Bis zum letzten Schrei! Die Stadt bleibt unser Laufsteg! - bedeutet das jetzt schon was? (Und was?) Doch sicher mehr als das Lied von der Seiltänzerin: Neulich sprach die Lady im Morse-ABC / Nur für dich /Geh ich auf dem Strich [bliep bliep bliep]. Oder doch nicht mehr?

Das geniale am dadaistischen Spiel ist eben, fröhliche Sinnlosigkeit mit Bausteinen zu kombinieren, die zumindest in ihrem ursprünglichen Kontext schwer bedeutungsbeladen waren. - Oder wie schon Der Plan einst skandierte: Liebling, nimm die Rüstungsspirale!

Wasch mich bitte rein in deiner Seifenlauge ...

... stöhnt das Gehirn, vom geballten Dadaismus überfordert und sich darüber ärgernd, dass die Geruchsnerven dann doch immer wieder ein Sinn-Fragment zu wittern glauben. Bleibt manchem nur der Rückzug in die wohlig einlullende Verdummung, kapitulieren und konsumieren: Kauf mich bitte ein mit deinen Schmiergeldscheinen - es ist so schön in deiner Ferienwohnung, schallalalalalaa ...; "Ferienwohnung" - ein Lied, das zumindest österreichische Hörer an die Rucki Zucki Palmencombo erinnern wird, gleichzeitig der Ohrwurm der CD.

Und das ist überhaupt der fieseste Trick von Kamerakino: dass sie bei all der Anstrengung, die sie dem Hörer abverlangen, und trotz mancher Kakophonie immer wieder direkt ins Ohr gehen und nicht mehr herauskommen wollen. Kamerakino findet man entweder vollkommen genial - oder über alle Maßen nervtötend. Nicht dass das eine das andere ausschließen würde ... (Josefson)