Die Restitutionsforscherin Sophie Lillie im Gespräch mit Thomas Trenkler über ihr beim Czernin Verlag veröffentlichtes Handbuch "Was einmal war" über die enteigneten Kunstsammlungen in Wien - eine reich bebilderte, erschütternde Dokumentation.


ZUR PERSON:
Sophie Lillie, geboren 1970 in Wien, lebte von 1989 bis 1995 in den USA, zuerst in Philadelphia, später in New York, und studierte dort Kunstgeschichte (Master of Arts an der Columbia University). Von 1995 bis 2001 war Sophie Lillie für die Israelitische Kultusgemeinde in Wien im Bereich Restitution tätig, zuletzt als Leiterin der Anlaufstelle für jüdische NS-Verfolgte. Seit 2001 ist sie freie Provenienzforscherin. (trenk)


STANDARD: Ein Buch mit 1440 Seiten, mit unglaublich vielen Listen, Abbildungen, Fußnoten, insgesamt Abertausenden Fakten: Warum tut man sich einen solchen Wahnsinn an?

Lillie: Weil man sieht, dass die Arbeit getan werden muss, aber bisher nicht erledigt worden ist. Dieses Buch stellt trotzdem nur einen Ansatz, einen Grundstein für die Provenienzforschung dar.

STANDARD: Wie kam es dazu?

Lillie: Mit dem Thema in Berührung gekommen bin ich 1995 durch die Übergabe der Sammlung Mauerbach von der Republik Österreich an die Kultusgemeinde, für die ich damals arbeitete. Ich kam daher auch mit den Bildern selbst in Berührung - eingepackt wie sie waren, mit all den Nummern, Depotvermerken und Aufschriften.

Ich habe damals nicht die Bedeutung dieser Beschriftungen verstanden, aber ich wusste, dass es wichtig wäre, sie vor der Auktion zu dokumentieren. Von da an hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Ich entdeckte bald, dass es im Bereich Kunstraub nicht zu wenig Quellenmaterial gab, wie behauptet wurde, sondern im Gegenteil einen unheimlichen Wust an NS-Materialien, die einfach nicht aufgearbeitet sind.

STANDARD: Hätte es Ihr Handbuch schon damals gegeben ...

Lillie: ... dann wäre es nicht mehr möglich, die Bilder als herrenlos zu bezeichnen, was man damals tat - und was der eigentliche Skandal war. Tatsache ist, dass der Kunstraub hoch systematisch ablief und immer auf dem Behördenweg vollzogen wurde: Die Finanzlandesdirektion, die Zentralstelle für Denkmalschutz, die Vermögensverkehrsstelle waren damit befasst. In der Zentralstelle wurden die eingelieferten Objekte inventarisiert, protokolliert und fotografiert. Diese Unterlagen standen stets im Bundesdenkmalamt zur Verfügung. Aber niemand beschäftigte sich mit ihnen.

STANDARD: Eine gespenstische Situation: Die generelle Haltung Österreichs änderte sich erst durch die Causa Mauerbach - und die Beschlagnahmung von zwei Schiele-Gemälden aus der Sammlung Leopold im Jänner 1998. Eine fragwürdige Rolle hatte in der NS-Zeit das Dorotheum inne: Alles, was über das Auktionshaus in Privatbesitz überging, war für die rechtmäßigen Eigentümer unwiederbringlich verloren.

Lillie: Das dritte Rückstellungsgesetz hat eben die Rückgabe von Gegenständen ausgeschlossen, die gutgläubig erworben wurden. Das Dorotheum wusste natürlich, an wen man die Sachen verkaufte - und hat bis zu den 60er-Jahren Aufzeichnungen mitunter auch zur Verfügung gestellt.

STANDARD: Aber das Dorotheum wusste auch, wer der Einbringer war und wessen Gut da eingebracht wurde ...

Lillie: Es war völlig integriert in die Entziehungsmaschinerie. Und es war nicht nur in den Verkauf involviert, sondern auch in den Zuweisungsprozess: Die Objekte wurden im Dorotheum geschätzt, die Durchschriften der Gutachten gingen an die NS-Stellen und Museen, und diese konnten ihnen wichtige Kunstwerke aus der Auktion nehmen lassen, um sie zum Schätzpreis zu erwerben.

STANDARD: Wie zum Beispiel das Gemälde Wasserschlangen II von Gustav Klimt, das der Filmregisseur Gustav Ucicky 1940 auf Intervention des Reichsstatthalters Baldur von Schirach vor der Versteigerung erwerben konnte. Wo befindet sich das Bild heute?

Lillie: Es befand sich 1961 in der Verlassenschaft von Ucicky und wurde seiner Witwe eingeantwortet. Es dürfte nach wie vor in Wien sein.

Foto: Czernin Verlag / Artothek 13484
Zuletzt im Nachlass des Regisseurs Gustav Usicky erwähnt:
"Wasserschlangen II" von Gustav Klimt aus der Sammlung Jenny Steiner.

STANDARD: Fast alle Enteignungsfälle liefen nach dem gleichen brutalen Schema ab?

Lillie: Ja, unmittelbar nach dem Anschluss wurden die wichtigsten Sammlungen beschlagnahmt, etwa von Alphonse Rothschild, Louis Rothschild, Rudolf Gutmann. Aber das war der Ausnahmefall. Mit dem Erfassen der Kunstsammlungen durch die Vermögensverkehrsstelle wurde in Folge der Verordnungen über die Anmeldung jüdischen Vermögens per Ende April 1938 begonnen. In vielen Fällen haben die Besitzer bei der Zentralstelle für Denkmalschutz um Ausfuhrgenehmigung angesucht. Und diese hat beschieden, welche Objekte als national wertvolles Gut anzusehen sind.

Die Wiener Magistratsabteilung 50 stellte sie daraufhin wegen der Gefahr einer Verbringung ins Ausland sicher. Die für die Ausfuhr freigegebenen Objekte gingen an die Speditionen, die Lifts wurden aber schon bald nicht mehr abgefertigt, weil die Geflüchteten niemanden hatten, der für sie die Formalitäten erledigt hätte, und sie kannten auch nicht die Endstation ihrer Flucht. Später machte der Krieg jeden Transport unmöglich. Bis 1940 sammelten sich circa 5000 Übersiedlungslifts in Wien an.

Die Lagerhallen waren überfüllt, die Speditionen gründeten daraufhin die Vugesta, eine untergeordnete Organisation der Gestapo: Die Vermögenswerte der Personen, die sich nicht mehr in Österreich befanden, wurden per Gesetz für verfallen erklärt und beschlagnahmt. Gebrauchsgegenstände kamen auf dem Wiener Messegelände in den Freiverkauf, die Kunstgegenstände ins Dorotheum.

STANDARD: Dadurch wurde die Bevölkerung zum Komplizen.

Lillie: Ja. Weil sie nicht nur Mitwisser war, sondern auch Nutznießer. Die Käufer im Dorotheum ab 1940 aber waren meist heimische Kunsthändler, die das, was sie selbst für die Vugesta und das Auktionshaus geschätzt hatten, erwarben - zu Schleuderpreisen.

STANDARD: Bis jetzt galt das Hauptaugenmerk der Provenienzforschung den Beständen in den öffentlichen Museen. Diese Raubkunstfälle stellen aber nur einen winzigen Teil der Tragödie dar.

Lillie: Ja, denn die meisten enteigneten Objekte waren nicht von musealer, sondern von persönlicher Bedeutung - und hängen nach wie vor in irgendwelchen Privatwohnungen zumeist in Wien: Bilder von Georg Friedrich Waldmüller, Rudolf von Alt, Friedrich Gauermann, Anton Romako.

STANDARD: Romako wurde hauptsächlich vom Internisten Oskar Reichel gesammelt. Haben die Romako-Bilder im Museum Leopold eine zweifelsfreie Provenienz?

Lillie: Reichel hat 1938 unter dem Druck der Reichsfluchtsteuer und um die Flucht seiner Kinder zu finanzieren, große Teile seiner Sammlung verkauft. Und etliche Bilder wurden vermutlich von der Vugesta versteigert. Die Stiftung Leopold besitzt zumindest zwei Bilder aus der Sammlung Reichel, Nike mit Kranz und Akt eines jungen Mädchens.

STANDARD: Das Kunsthistorische Museum meint, alle zweifelhaften Fälle erledigt zu haben. Sehen Sie das auch so?

Lillie: Das KHM hat, wie viele andere Museen, noch viel Arbeit vor sich. Zum Beispiel: Zwei Altarflügel von Maerten van Heemskerck aus der Sammlung von Richard Neumann wurden zwar 1952 restituiert, aber gleichzeitig für die Ausfuhr gesperrt. Bar einer anderen Alternative verkaufte Neumann die gotischen Tafeln an das KHM - um einen viel zu geringen Betrag. Eine Restitution wird derzeit nicht erwogen: Das Kunstrückgabegesetz behandelt nur Gegenstände, die unentgeltlich in das Eigentum der Republik übergegangen sind, also zum Beispiel durch Abpressen von Kunstwerken im Gegenzug für eine Ausfuhrgenehmigung.


Grundlage für weitere Recherche
Sophie Lillies Handbuch "Was einmal war"

Foto: Czernin Verlag
Sophie Lillie:
Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens.
Wien: Czernin Verlag 2003. 1440 Seiten, 69 Euro
Wien - 1998 veröffentlichte der Publizist und Journalist Hubertus Czernin im Molden Verlag einen schmalen Band unter dem Titel Die Auslöschung: Er beschrieb die Enteignung der Familie Thorsch durch die Nationalsozialisten und die bis heute erfolglosen Versuche der Erben, das Bankhaus restituiert zu bekommen.

Einige Monate später folgte bei Molden Thomas Trenklers Der Fall Rothschild: Seither entwickelt die publizistische Auseinandersetzung mit NS-Kunstraub und Restitution, mitinitiiert auch in Czernins STANDARD-Serie Das veruntreute Erbe, eine gewisse Kontinuität: Hubertus Czernins Die Fälschung (über den Fall Bloch-Bauer) bildet nun mit den beiden oben genannten Büchern den Grundstock der Reihe "Bibliothek des Raubes" des Czernin Verlags, die unter anderem mit Evelyn Adunkas Der Raub der Bücher (2002) über das Verschwinden und Vernichten von Bibliotheken in der NS-Zeit fortgesetzt wurde. In dieser Reihe bildet nun Sophie Lillies Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Was einmal war, einen vorläufigen Gipfelpunkt.

Es geht der Kunsthistorikerin nicht so sehr um Beschreibung oder Zeitkolorit, sondern vielmehr um geballte Fakten: Sophie Lillie seziert das Unrecht protokollartig und ergänzt jeden Fall - 1248 Sammlungen! - mit den Listen der geraubten Kunstwerke. Wie ein Roman durchlesen lässt sich das Handbuch daher nicht: Es ist eine erschütternde Dokumentation, vor allem eine profunde Grundlage für viele weitere Recherchen - und als solche notgedrungen unvollständig. Ein Folgeband des Handbuchs wäre daher äußerst wichtig. (red / DER STANDARD, Printausgabe, 28.11.2003)