Dietmar Köhler im derStandard.at/Chat: "Ich halte es für falsch, dass wir uns an jene anpassen, denen es schlechter geht. Dann wäre es ja nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder Kinderarbeit erlauben."

Foto: derStandard.at/Kathrein
Dietmar Köhler , der stv. Obmann des Vereins "Zum alten Eisen?" sprach sich im derStandard.at/Chat für eine ersatzlose Streichung der Zuverdienstgrenze aus. Die materielle Situation der NotstandshilfebezieherInnen, die im allgemeinen mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze auskommen müssen, sei Zumutung genug.

"Die Demokratie nicht erfunden"

Der Verein engagiert sich für die Etablierung einer Arbeitslosenvertretung. Da aber Österreich nicht zu den Ländern gehöre, "die die Demokratie erfunden haben, werden sich die Gespräche auf Bundes- und Landesebene wie Strudelteig ziehen".

Die Frage des Grundeinkommens sieht das Gründungsmitglied des Netzwerkes Grundeinkommen als Machtfrage: "Ärmere sind leichter zu beherrschen als mündige, die relativ unabhängig sind. Meiner Meinung nach geht es hier auch um die Ablehnung der Demokratie."

Lesen Sie das gesamte Chat-Protokoll:

MODERATOR

derStandard.at begrüßt zum chat mit dietmar köhler!
Dietmar Koehler Foto: Archiv

Herzlich willkommen bei einem nicht gerade heiteren thema, nämlich der immer noch steigenden Arbeitslosikeit.

Giftzwerg warum glauben sie das "alte" (d.h. erfahrene) arbeitskräfte überflüssig werden?
Dietmar Koehler Es gibt verschieden Gründe der Ablehnung von möglichen älteren Arbeitnehmern: erstens die Bezahlung (das ist aber in weiten Bereichen unwichtig, da Ältere immer bereit sind von ihrem vorigen Einkommen bedeutende Abstriche zu machen). Zweitens: "Junge Chefs" befürchten manchmal, dass ältere Arbeitnehmer mehr wissen und Kenntnisse mitbringen und damit die Chefposition gefährden könnten. Drittens: Es wird vermutet, dass Ältere weniger lernfähig sind (EDV) was nur in einigen Fällen stimmt, aber genell unrichtig ist.
kalind Warum gehören bereits 40 Jährige zum alten Eisen?
Dietmar Koehler Einserseits werden bei Firmen Umstrukturierungen vielfach zu erst Ältere wegen des höheren Gehaltes gekündigt. Diese Vorgangsweise ist eine reine Kostenbetrachtung und berücksichtigt nicht die Kenntnisse und Erfahrungen von Älteren. Man muss auch sagen, dass in Medien vielfach über die "Nachteile" Älterer gesprochen wird, weil Quantitäten leichter zu argumentieren sind als Qualitäten. Das ist aber jetzt kein Kampfruf gegen Jüngere.
samothrake ich begreif es nicht wirklich. warum muß die lebensarbeitszeit steigen, obwohl immer mehr junge leute ohne arbeit sind. zumal ja die technische weiterentwicklung auch arbeitsplätze frißt. warum setzt man das pensionsalter nicht eher herunter? arbeitslose können ja pensionen erst recht nicht sichern.
Dietmar Koehler Die "Pensionsangelegenheiten" sind (noch) staatsbudget Angelegenheiten; wenn Regierungen in erster Linie wirtschaftlich und nicht sozial denken, versuchen sie das gleiche zu tun wie Wirtschaftsbetriebe: Kosten auslagern. Natürlich geht eine Beschäftigung Älterer zu Lasten der Berufschancen Jüngerer. Faktum ist: In Österreich fehlen ca. 500 000 - 700 000 bezahlte Vollzeitserwerbsarbeitsplätze.
obb_blues1 pensionskonto: angenommen alles wäre geklärt, und ein arbeitnehmer nimmt eine auszeit - wie stehen die chancen für den wiedereinstieg?
Dietmar Koehler Das hängt von mehreren Faktoren ab: Alter, Fähigkeiten, Gehaltsvorstellungen. In dieser Beziehung ist der "Arbeitsmarkt" wenig aussagekräftig; die einzige Aussage ist: Arbeitskräfte sollen möglichst billig sein.
globalcash alt = unflexibel ?
Dietmar Koehler Das Wort felxibel entsteht um das 16. Jahrhundert herum in England aufgrund der Beobachtung, dass sich schlanke Bäume entsprechend der Windkraft anpassen. Heute wird das Wort flexibel sehr oft an Stelle von "verbiegen" verwendet.
red_derStandard.at Userfrage per mail: Ich bin seit 15 Monaten arbeitslos und beziehe 0,98 Euro Notstandshilfe pro Tag. Soll ich mich scheiden lassen, um mehr Notstandshilfe zu bekommen?
Dietmar Koehler Ihre Situation ist sicher sehr schwierig. Eine Rechtsberatung ist nur individuell möglich. Ich lade sie ein den Verein "Zum alten Eisen?" an einem Donnerstag in der Laudongasse 16 aufzusuchen. Ausgenommen: 18.12. und in der Zeit von 24.12. bis 6.1.
samothrake durch welche aktionen können überhaupt arbeitsplätze geschaffen werden? doch sicher nicht durch verstärktes einheben von steuern. was schlagen sie vor?
Dietmar Koehler ARBEITSZEITVERKÜRZUNG!!! Ich erinnere daran, dass in der Zeit, als in Frankreich die Wochenarbeitszeit nach und nach auf 35 Stunden verkürzt wurde, das französische BIP stärker wuchs, als das deutsche BIP.
De Valera Wie ist ihre Einstellung zum Grundeinkommen? Warum glauben Sie wird das Grundeinkommen von keiner der politischen Parteien ernsthaft diskutiert?
Dietmar Koehler Ich bin Gründungsmitglied des Netzwerkes Grundeinkommen und natürlich ein Befürworter. Bei der Einführung eines Grundeinkommens geht es um Armutsbekämpfung und menschenwürdiges Überleben. Die Ablehungn des Grundeinkommens sehe ich als Machtfrage. Ärmere sind leichter zu beherrschen als mündige die relativ unabhängig sind. Meiner Ansicht nach geht es hier auch um die Ablehnung von Demokratie.
Giftzwerg glauben sie das die steigende akademikerarbeitslosigkeit in kausalem zusammenhang mit der derzeiten regierung steht?
Dietmar Koehler Vertreter dieser Regierung haben wiederholt geäußert, dass für die Schaffun von Arbeitsplätzen ausschließlich die Wirtschaft zuständig sei. Die Situation der Wirtschaft in Bezug auf Arbeitnehmer würde ich wie folgt zusammenfassen: Immer weniger müssen immer mehr arbeiten. Solange Wirtschaft ausschließlich von der Profit- und Kostenseite gesehen wird, wird die Arbeitslosikeit weiter steigen; egal ob Hilfsarbeiter oder Akademiker.
jobjunkee arbeitszeitverkürzung = weitere erhöhung der lohnkosten, halten sie das in hinblick auf verstärkte billiglohnkonkurenz für produktiv? es gibt ja auch bestens geschulte IT spezialisten in Indien zu 20% der mitteleuropäischen kosten
Dietmar Koehler Einserseits halte ich es für falsch, dass wir uns an jene anpassen, denen es schlechter geht. Dann wäre es ja nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder Kinderarbeit erlauben. Ziel sollte es sein Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die das gegenüber Ländern der dritten Welt höhere Durchschnittseinkommen erlauben. Sonst wäre unser System in etwa so effizient wie der "Pseudokommunismus" der die Armen nicht reicher, aber die Reichen ärmer gemacht hat.
Dietmar Koehler Die Frage der Lohnkosten und anderer Abgaben stellt sich für weite Wirtschaftsbereiche nicht. Diese Frage betriffe nur jene Teile der Wirtschaft, die entweder in Länder exportieren wo weniger Abgaben gezahlt werden, oder in Konkurrenz zu Produkten stehen, die aus diesen Ländern importiert werden. Wenn ich einen Installateur brauche, hole ich den nicht aus Györ, weil dort die Abgabenquote niedriger ist. Obwohl ich aufgrund niedriger Notstandshilfe mit meinem Geld sorgfältig wirtschaften muss, hab ich mein Geld nicht auf einer Bank in Bratislava.
jobjunkee was soll nun ein einheimisches unternehmen tun? in idealismus zugrunde gehen?
Dietmar Koehler Die meisten Privatunternehmen gehen nicht zu grunde, weil die Putzfrau schlecht arbeitete, sondern weil das Management unfähig ist. Es darf auch erwartet werden, dass Innovationen im Management und nicht beim Fabriksportier hervorgebracht werden. Leider ist es jetzt in Österreich seit Jahrzehnten (wenn nicht länger) für Wirtschaftstreibende üblich, bei jedem kleinen Ereignis die Steuerzahler (via Bundesregierung) um Unterstützung anzugehen. Beispiel: Die Forschungsquote ist zwar in Skandinavien höher als in Österreich, aber in Österreich gibt der Steuerzahler mehr für Forschungsförderung aus als in Skandinavien.
lyn wie finanziert sich ihr verein?
Dietmar Koehler Mitgliedsbeiträge, und vereinzelt über Insereate in unserer Vereinszeitung. Unser Budget ist sehr gering, daher gibt es nur ehrenamtliche MitarbeiterInnen.
De Valera Bekommt ihr Verein öffentliche Förderungen, wenn ja in welcher Höhe?
Dietmar Koehler Wir erhielten in der Vergangenheit manchmal einen Zuschuss im Ausmaß von 700 Euro.
De Valera Der Berufsschutz bei der Jobsuche soll nun nach 100 Tagen fallen. Dafür soll ein sogenannter Entgeltschutz kommen. Ihr Kommentar?
Dietmar Koehler Meiner Ansicht nach ist der vom WKO und ÖGB ausgeschickte Text nicht vollständig. Der Einkommenschutz von 80 Prozent ist keine Garantie gegen eine Einkommensspirale, die nach unten geht; die Zeiten für den Einkommensschutz sind ja relativ kurz, im Text ist auch nichts erwähnt, was jemand zu erwarten hat, der in dieser kurzen Zeit mehrer Dienstverhältnisse auf Probe eingehen muss.
Dietmar Koehler Generell zu den Zumutbarkeitsbestimmungen: Diese soltlen ersatzlos gestrichen werden. Dafür gibt es drei Gründe: 1. Die Zumutbarkeitsbestimmungen sind ein Relikt aus dem Mittelalter (Siehe Arbeiterstatut von König Edward III. von 1349), 2. Da die durchschnittlifhe Notstandshilfe und das druchschjnttliche Arbeistlosengeld weit unter der Armutsschwelle von 780 Euro pro Monat liegen, ist die matrielle Situation wohl genug Zumutung.
Dietmar Koehler 3. Welche Arbeitsplätze werden zugemutet, wenn wir in Österreich um etwa 500.000 - 700.000 bezahlte Vollzeitarbeitsplätz zu wenig haben. Ist das der Beginn die Leute in Schwarzarbeit zu schicken, wie das vor nicht allzu langer Zeit der italienische Ministerpräsident gesagt hat?
red_derStandard.at Userfrage per Mail: Bei "Offen gesagt" haben Sie die dringende Aktualität eines Arbeitslosensprechers vorgebracht. Hat dieser Vorschlag ein Echo bei der Regierung bzw. bei den politischen Parteien hervorgerufen?
Dietmar Koehler Es gibt bisher nur relativ vage Aussagen aus dem politischen Bereich. Ausnahme (vielleicht): In Oberösterreich wurde im Regierungsprogramm eine "Arbeitslosenanwaltschaft" vereinbart. Aus Gründen einer demokratischen Politik müssen Betroffene die Möglichkeit haben, sich selbst und ihre Anliegen zu vertreten. Es gilt der Spruch aus dem römischen Recht: Was alle angeht ist von allen zu entscheiden.
Dietmar Koehler Der Verein "Zum alten Eisen?" bemüht sich laufend in Gesprächen mit PolitikerInnen auf Bundes- und Landesebene um eine Institutionalisierung einer Arbeitslosenvertretung. Österreich gehört nicht zu den Länder, die die Demokratie erfunden haben, daher werden sich die Gespräche ziehen wie ein wiener Strudelteig.
jobjunkee "arbeitslosensprecher" halte ich einerseits für eine gute idee, andererseits für schwer zu realisieren. wer sollte das sein und was schwebt ihnen vor damit das nicht nur ein zahnloser alibiposten ist?
Dietmar Koehler Wünschenswert ist, dass in einer Institution "ArbeitslosensprecherIn" nur Leute beschäftigt sind, die neben den benötigten Fähigkeiten auch selbst über einen gewissen Zeitraum arbeitslos waren. Es ist wichtig im Umgang mit Erwerbsarbeitslosen über eigene Erfahrungen zu verfügen.
sterngucker wie beurteilen sie poltiker und experten, die ungeachtet der tatsache, daß menschen über 50 generell als unvermittelbar gelten, unverdrossen über eine erhöhung des pensionsalters auf 67 oder gar 70 nachdenken und uns weismachen wollen, damit wirtschaftliche probleme zu lösen? ist das bloße ignoranz oder blanker zynismus?
Dietmar Koehler Meine persönliche Meinung zu dem in der Politik ausgeübten Funktionen (es ist nicht meine Art die Menschenwürde zu verletzten): Eine Mischung aus Praxisfremdheit, Machtstreben, Angst um die eigene Position und Ignoranz betreffend der Realität. Es gibt einige rühmliche Ausnahmen!
De Valera Laut Statistik werden im Moment knapp 50.000 Jobsuchende vom AMS in Schulungen gesteckt. Was bringen diese Schulungen für Langzeitarbeitslose? Schikane oder Chance?
Dietmar Koehler Für Langzeitarbeitslose können Schulungen je nach persönlicher Einstellung ein Ersatz für das Kabarret Simpl sein, für andere ist es eine Beleidigung ihrer schon vorhandenen Fähigkeiten, für andere ein mehr oder weniger amikales Treffen mit Gleichgesinnten, aber für einige auch druchaus sinnvoll. Die Erfolgsquoten werden mit 15 Prozent bis 60 Prozent angegeben; wie das berechnet wird konnte ich bis heute nicht eruieren, halte die höheren Erfolgsquoten allerding für Reklame in eigener Sache.
nicky123 Die Konsumgewohnheiten scheinen sich in Richtung "mehr und öfter, dafür billiger" zu entwickeln - mit einem Teufelskreis an Folgen wie geringerer Nachfrage nach heimischen Produkten, Produktionsauslagerungen, heimischer Arbeitslosigkeit und weiterem Kaufkraftverlust, aber auch Umweltproblemen durch Transport und Entsorgung. Wie gegensteuern?
Dietmar Koehler Dafür gibt es kein Rezept. Wirschaftswissenschaft zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie keine Wissenschaft ist (im strengen Sinne). Es geht also immer auch um Experimente. Dagegen hätte ich nichts prinzipielles einzuwenden, würden nicht ständig die Kosten für verfehlte Experimente auf jene Leute abgeladen, denen es ohnehin schon schlecht geht.
obb_blues1 wielange sollte man in zukunft ihrer meinung nach arbeiten - 60, 65, 70 ...?
Dietmar Koehler Man sollte so lange arbeiten, als man geistig und körperlich dazu in der Lage ist UND Spass an der Arbeit hat.
Suchender Die schulungsmaßnahmen sind nicht effizent, solange nicht qualifiziert wird. Warum wird das Geld nicht für ein effizentes Choaching eingesetzt?
Dietmar Koehler Ich bin der Meinung, dass auch bei den Kursen vor allem matching (das sinnvolle Zusammenführen von "Angebot" und "Nachfrage") im Vordergrund stehen sollte. Die Auswahl von Betroffenen bei Kurszuweisungen ist ein "Massengeschäft" und vernachlässigt damit automatisch Qualitätskriterien. Ein Qualitätskriterium wäre ein ausfühliches Gespräch um nicht nur die Erwerbsbiografie, sondern auch Wünsche und Fähigkeiten der Betroffenen zu erkennen.
Dietmar Koehler Also: Mitsprache der Betroffenen! Weiters: Mitentscheidung der Betroffenen!! Wir sind wieder beim Demokratieaspekt (und "ArbeitslosensprecherIn").
samothrake meine firma hat vor einiger zeit eine/n lohnverrechnerIn gesucht für einen 20 h job. 4 wochen lang inserate im standard haben 3 bewerbungen gebracht mit nur einer fachlichen qualifikation. wie ist sowas zu erklären?
Dietmar Koehler Gegenfrage: Wieviel zahlt die Firma für den Job?
Giftzwerg wird sich die arbeitsmarktsituation noch weiter verschlechtern bevor sie besser wird?
Dietmar Koehler Das Orakel von Delphi sagte: Zuerst einmal wird alles schlechter. Besser wird es nur dann, wenn wir (die Betrofffenen und ihre Institution "ArbeitslosensprecherIn") die Möglichkeit haben was vernünftiges und menschenwürdiges zu tun.
Suchender Wie kann ich den hunderttausenden Arbeitssuchenden helfen? Bin selber Arbeitssuchend und habe keine finanzielle Mittel aber reichlich Erfahrung.
Dietmar Koehler Könne wir das persönlich besprechen? Das lässt sich generell nicht einfach beantworten, weil ehrenamtliche Mitarbeit freiwillig sein muss. Wir treffen uns jeden Donnerstag ab 16.30 Uhr im Laudonstüberl; 1080 Laudongasse 16. Ausgenommen 18.12 und 24.12 bis 6.1. Herzlich willkommen!
red_derStandard.at Userfrage: Welche Leistungen bietet der Verein "Zum alten Eisen"?
Dietmar Koehler Wir bemühen uns, Leuten denen so etwas zum ersten Mal passiert in Gesprächen zu helfen; weiters wollen wir unsere Erfahrungen austauschen (man muss das Rad nicht neu erfinden) und wichtig ist Öffentlichkeitsarbeit in Richtung Betroffene, Medien, PolitikerInnen. Wir wollen einen "Arbeistlosensprecher"!!
Dietmar Koehler Herzlichen Dank, wenn manche über den Verein "Zum alten Eisen?" zu wenig erfahren haben: www.zum-alten-eisen.org und herzlich willkommen bei unseren Treffen am Donnerstag.