Peter Pilz: "Die österreichische Politik muss sich hier und heute entscheiden, ob sie ein Ziel verfolgt, an dessen Ende, ob es uns freut oder nicht, keine Neutralität mehr steht."

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STANDARD: Sie haben in den letzten Tagen wiederholt kritisiert, dass sich in der österreichischen Sicherheitsdebatte alles um die Neutralität dreht. Wollen Sie die jetzt aufgeben?

Pilz: Es werden in Österreich alle Parteien gezwungen sein, sich auf die völlige Änderung der Sicherheitspolitik und -situation in Europa einzustellen. Der nächste große Einigungsschritt findet in der Sicherheit statt. Früher oder später wird Europa feststellen, dass es für seine eigene Sicherheit verantwortlich ist und die Nachkriegszeit mit der amerikanischen Vorherrschaft in Europa zu Ende geht. Und in einer vergemeinschafteten Sicherheit gibt es weder paktgebundene Mitglieder noch Neutrale.

STANDARD: Heißt konkret?

Pilz: Das heißt, die österreichische Politik muss sich hier und heute entscheiden, ob sie ein Ziel verfolgt, an dessen Ende, ob es uns freut oder nicht, keine Neutralität mehr steht.

STANDARD: Für die Grünen begehen Sie soeben einen absoluten Tabubruch.

Pilz: Möglicherweise werden manche, die aus guten Gründen von den Verdiensten der klassischen Neutralität überzeugt sind, der Meinung sein, dieses Tabu sollte nicht gebrochen werden. Aber: Wenn wir die europäische Sicherheitspolitik so weiterlaufen lassen, wird immer mehr an Zusammenarbeit auf Ratsebene entstehen. Die Sicherheitspolitik wird aus den nationalen Parlamenten verschwinden, aber nicht in Europa ankommen. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir eine europäische Sicherheitspolitik ohne jede demokratische Kontrolle. Erst wenn die Sicherheitspolitik in Europa vergemeinschaftet wird, ist das Europaparlament für die Sicherheit zuständig.

STANDARD: Was heißt vergemeinschaftet?

Pilz: Dass es letzten Endes so wie einen europäischen Außenminister auch einen europäischen Verteidigungsminister und eine gemeinsame europäische Verteidigung gibt.

STANDARD: Also eine gemeinsame europäische Armee . . .

Pilz: Dazu gibt es keine Alternative.

STANDARD: . . . in der auch Österreich teilnehmen soll.

Pilz: An der sich auch Österreich am Verteidigungsbudget beteiligen kann und in deren Streitkräften es auch Österreicherinnen und Österreicher geben kann.

STANDARD: Das ist doch das Aufgehen in einem neuen Verteidigungspakt.

Pilz: Nein, das ist kein Pakt, sondern ein Teil der europäischen Gemeinschaft. Und da stellt sich die nächste Frage: Soll Österreich in der Zeit, bis es so weit ist, sich an einem Sicherheitsbündnis im Rahmen der europäischen Union beteiligen? Die Vergemeinschaftung kommt in zehn bis 15 Jahren und ist für mich das große europäische Ziel.

STANDARD: Bis dahin stellt sich auch für Österreich die Frage der Beistandspflicht.

Pilz: Der Bündnisfall ist, wie alle wissen, äußerst unwahrscheinlich. Aber nehmen wir beispielsweise an, Ungarn würde militärisch angegriffen: Frankreich und andere würden sagen, selbstverständlich kommen wir unserem EU- Partner zu Hilfe. Soll dann Österreich erklären: Wir sperren den Durchzug? Österreich ist Ungarn gegenüber nicht solidarisch? Das ist doch völlig undenkbar. Wenn man eine gemeinsame Währung hat und in der Zinspolitik solidarisch ist, wird man doch, wenn es um die Existenz geht, ein Mindestmaß an Solidarität aufbringen.

STANDARD: Das hieße zurzeit eine Beistandspflicht im Rahmen von Nato-Aktionen.

Pilz: Da muss man jetzt sehr genau sein: In dieser offenen europäischen Frage werden sich Staaten wie Großbritannien, Polen und Spanien dafür einsetzen, dass das alles im Rahmen der Nato stattfindet. Da müssen wir unsere Karten offen auf den Tisch legen und sagen: Österreich wird sich an diesem Weg sicher nicht beteiligen. Denn es geht uns bis zum Tag der Vergemeinschaftung um die Anpassung der Neutralität. Es macht zwar keinen Sinn mehr, dass die Neutralität innerhalb Europas gilt, aber bis es eine Vergemeinschaftung gibt, muss die Neutralität jenseits der Außengrenzen der EU erhalten bleiben. Das heißt im Bündnisfall, dass sich die Staaten innerhalb des Bündnisses nur mit ihren eigenen militärischen und polizeilichen Kräften unterstützen. Eine Hintertür in die Nato gibt es da nicht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.12.2003)