Brüssel - Eine Woche vor dem EU-Gipfel zur europäischen Verfassung mehren sich dramatische Appelle und Ankündigungen von Politikern aus ganz Europa. Abgeordnete drohen mit einer Nicht-Ratifizieren, EU-Konventspräsident Giscard d´Estaing warnt vor sogar vor dem "Ende der Europäischen Union".

In einer gemeinsamen Resolution drohen 144 (inklusive Stellvertretern) im Konvent vertretene Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europaparlaments im Konvent mit einer Nicht-Ratifizierung der künftigen EU-Verfassung. "Eine Verfassung, die die Budgetrechte des Europäischen Parlaments nicht respektiert, wird nicht die Zustimmung des Europäischen oder eines nationalen Parlaments erhalten", heißt es in der Resolution. Als "unverzichtbar" ist für sie auch eine Reform der Stimmgewichtung nach dem System doppelter Mehrheiten, das Spanien und Polen vehement ablehnen.

In dem Papier warnen die Parlamentarier vor einem Scheitern der Verfassungsverhandlungen. "Es ist offensichtlich, dass die Regierungskonferenz versucht ist, einige Schlüsselelemente des vom Konvent erzielten Konsens wieder zu öffnen."

"Absolut rote Linie" Budget

Die österreichischen EU-Abgeordneten Johannes Voggenhuber (Grüne) und Maria Berger (SPÖ) erklärten beide, sollte auf dem EU-Gipfel nächste Woche in Brüssel eine "schlechte Verfassung" beschlossen werden, würde sie den Parlamenten eine Nicht-Ratifizierung empfehlen. "Die absolute rote Linie" ist für Berger das derzeit geltende Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments (EP) bei der jährlichen Budgeterstellung sowie die Einbindung der Abgeordneten in der Erstellung der mittelfristigen EU-Finanzvorschau.

"Eine große Krise wäre heilsamer als eine schlechte Verfassung", betonte auch Voggenhuber. "Wir können die nationalen Parlamente aufzurufen, nicht zu ratifizieren." Offen sei allerdings die Frage, ob das Europaparlament angesichts der anstehenden EU-Wahlen nicht letzten Endes "in die Knie geht" und auch einem unzureichenden Verfassungsvertrag zustimmen würde.

Voggenhuber warnte vor einer Beibehaltung des "Lotteriesystems von Nizza", dem derzeit gültigen, aber komplizierten System der Stimmgewichtung im EU-Ministerrat. Auch gegen eine leichtere Bildung von Sperrminoritäten sprach sich der EU-Abgeordnete aus: Sollte es zur Beschlussfassung nicht wie vom Konvent vorgeschlagen mindestens 60 Prozent der EU-Bevölkerung bedürfen, sondern - wie von Spanien angeregt - 66 Prozent - könnte eine Koalition von Nettozahlern oder der EU-Beitrittsstaaten jede Einigung blockieren.

"Angst" herrsche unter den Abgeordneten auch darüber, dass alle wesentlichen institutionellen Fragen vom Gipfel verschoben würden, sagte Berger. Eine derartige Revisionsklausel war zuletzt von Polen und Großbritannien ins Spiel gebracht worden. Demnach sollte die Entscheidung über den Abstimmungsmechanismus im EU-Ministerrat auf 2009 verschoben werden.

Giscard warnt vor "Ende der EU"

Der Präsident des EU-Konvents, Valery Giscard d'Estaing, warnte am Freitag vor einer "Verstümmelung" des Entwurfs. Die Verfassung tot zu verhandeln könne das Ende der Europäischen Union bedeuten, sagte Giscard d'Estaing am Freitag in Brüssel. Für die EU sei es besser, keine Verfassung zu haben als eine schlechte, betonte der ehemalige französische Staatspräsident.

Der Verfassungskonvent hatte den Entwurf im Juli vorgelegt. Er sieht die Wahl eines ständigen EU-Präsidenten, die Einsetzung eines EU-Außenministers und mehr Einfluss des EU-Parlaments vor. Zudem sollen eine größere Anzahl von Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluss getroffen werden können. Die Verfassung soll dafür sorgen, dass die EU nach der Erweiterung um zehn Staaten am 1. Mai 2004 handlungsfähig bleibt.

Der amtierende EU-Ratspräsident und italienische Außenminister Franco Frattini warnte vor wesentlichen Veränderungen in der Machtbalance gewarnt. Frattini sagte am Freitag in Brüssel, auch in der höchst umstrittenen Frage der künftigen Stimmgewichtung sei es sehr schwierig, die Balance zu verändern. Polen und Spanien lehnen den Vorschlag des EU-Verfassungskonventes für eine neue Mehrheitsformel im Ministerrat ab, die die Bevölkerungszahl stärker berücksichtigen und damit Deutschland stärken würde.

Deutschland, Frankreich und einige andere Länder waren bereit, den Entwurf trotz Detailkritik als bestmöglichen Kompromiss zu akzeptieren. Doch zahlreiche andere Länder hatten Änderungen verlangt. In den Verhandlungen in der Regierungskonferenz in den vergangenen Wochen haben sich bereits zahlreiche Änderungen abgezeichnet.

So deutete sich ein Erfolg Österreichs und zahlreicher weiterer kleiner Länder ab, die stets einen stimmberechtigten Kommissar in die EU-Kommission entsenden wollen. Der Konvent hatte eine Verkleinerung der Kommission auf 15 Mitglieder und einen Rotationsmechanismus zwischen den Ländern vorgeschlagen. Auch gibt es weitgehende Einigkeit über eine EU-Verteidigungspolitik, die am Montag erneut von den EU-Außenministern beraten werden soll. Das EU-Parlament dürfte nach Frattinis Worten nicht das vom Konvent vorgeschlagene Veto-Recht bei der Haushaltsplanung bekommen.

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer hat jedoch bereits gewarnt, der Streit über die künftige Machtverteilung im Ministerrat könne die gesamten Verfassungsverhandlungen zum Scheitern bringen. Deutschland hat eine Vertagung der Entscheidung abgelehnt. Falls es keinen Kompromiss geben sollte, würde der Vertrag von Nizza mit seinem komplizierten Abstimmungssystem gelten. Nizza würde Polen und Spanien jeweils fast so viele Stimmen geben wie Deutschland, obwohl die beiden Staaten nur jeweils halb so viele Einwohner haben. (APA/Reuters/AP/red)