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Attwenger

Foto: REUTERS/Halada
In Zeiten des Advent-, Weihnacht- und Sternesingens sind alle Spielarten vom volkstümlichen bis zum "authentischen" Musizieren präsent. Ob es Musik mit Echtheitszertifikat und Tradition mit Ablaufdatum gibt, hat Michael Freund bei entsprechenden Stellen erkundet.


Weihnachten im Volkslied? "Großartig!" sagt Walter Deutsch. "Ich meine, in jedem Ort gibt's Adventsingen, mit Liedern aus der Tradition, die alle das Geschehen illustrieren, und je nach der Gegend ist jedes Lied ein bissl anders." Keiner singt's perfekt, keiner tut so, als stünde er vor der Fernsehkamera. Das gefällt ihm. Der Ehrenpräsident des Österreichischen Volksliedwerkes ist in seinen Element, Weihnachten ist ganz besonders seine Zeit.

Aber auch das Jahr über suchen und finden Deutsch und seine KollegInnen das "Authentische" im Liedgut des Landes. Sie teilen es ein, vergleichen, finden Verwandtes, grenzen ab gegen andere Formen der Sanges-, Chor oder Blasmusik, gegen Volkstümliches und Pop-Kulturelles. Das allerdings ist keine leichte Aufgabe in Zeiten, in denen die Grenzen zwischen den Genres zu verschwimmen scheinen. Als Medienkonsument hat man zumindest den Eindruck, dass die Übergänge zwischen nachbarlichen Freizeitmusikanten, professionellen Sangestruppen und älplerischen cantautori fließend sind. Wo bleibt die Authentizität?

"Volksmusik im weiteren Sinn", sagt Gerlinde Haid vom Wiener Institut für Volksmusikforschung, "ist alles, was das Volk singt und musiziert, also Laienmusik insgesamt." Im engeren Sinn aber sei durch schriftlose Tradition ausgezeichnet, durch kleine, einfache Form, die je nach Landschaft und sozialen Gruppen regional verschieden ist. Sie ist ein unmittelbarer Spiegel der (zumeist bäuerlichen) Lebensweise und in die alltäglichen Lebensprozesse eingebunden, ergänzt das Netlexikon.

Mehr über die relativ abgeschottete Tradition erfuhr man erst, als das k.u.k. Ministerium für Kultur und Unterricht im Rahmen der Ethnographie der habsburgischen Völker 1904 das "Österreichische Volksliedunternehmen" gründete. Die Herausgabe von Noten und Texten für den praktischen Gebrauch kam nach dem Ersten Weltkrieg zu einem abrupten Ende, Mitarbeiter wie Leo Janacek (für Mähren) und Béla Bartók (für Ungarn) wurden bekanntlich anderweitig tätig.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm man die wissenschaftliche Arbeit wieder auf, es entstanden neue Fachzeitschriften, die Phonothek der Akademie der Wissenschaften erweiterte ihre Bestände, und ab 1965 widmete sich der Dirigent und Komponist Walter Deutsch an der neu gegründeten Hochschule für Musik dem Thema Volksmusik. Seit seiner Emeritierung (Haid wurde seine Nachfolgerin) arbeitet er im Volksliedwerk als "wissenschaftlicher Knecht", so die Eigendefinition. Als (Mit-)Herausgeber eines einschlägigen Jahrbuches und des COMPA (Corpus Musicae Popularis Austriacae, einer Fortsetzung der k.u.k. Feldarbeit mit modernen Mitteln) ist er durchaus ein Bewahrer des Guten und Authentischen, wenn auch nicht so rigide, wie man es bei Volkslied-Verteidigern vermutet (siehe nebenstehenden Einwurf). Er lässt die Beatles ("neue Form des Lyrismus!") genauso gelten wie Slavko Avseniks Original Oberkrainer ("der hat die volkstümliche Art ins Leben gerufen") oder Roland Neuwirths Extremschrammeln: "Der ist extrem professionell, fähig, die alte Form des Wienerischen herrlich zu spielen, und weil er jazzig veranlagt ist, macht er entsprechende wienerische Musik, wie sie niemand nachspielen kann."

Noch weniger Berührungsängste hat Hermann Härtel, Geschäftsführer eines der regionalen Volksliedwerke, des steirischen. Er sieht eine wachsende Sehnsucht vieler nach "Erdung" in etwas Persönlichem, sei es Kochen oder Geschichten sammeln oder eben Musizieren. Dafür allerdings will er mit seinem Verein eine "Spielwiese" zur Verfügung stellen, auf dass "die Tradition nicht mehr drückt. Denn in Kühlschränken können wir sie auch nicht hinüberretten, alles hat sein Ablaufdatum." Im Kiosk an der Spielwiese hängt die Vereinszeitschrift Der Vierzeiler aus, in der laufenden Nummer kann Günter Nenning gegen den US-Terroristen-Import Weihnachtsmann polemisieren und Roland Girtler den Kampus loben, während sich Musikologen auch ernsthafter mit Fachthemen auseinander setzen.

Das Kulturklima in der Steiermark hat nach Härtels Ansicht zu der Breite beigetragen, in der sein Verein und der angeschlossene Verlag arbeiten können. Zu den Gründungsmitgliedern und Vordenkern zählte immerhin der Landespolitiker und Volkskundler Hanns Koren.

Ob heute mehr oder weniger "Volkstümliches" von Moik auf-oder abwärts im ORF läuft, das berührt Härtel wenig: "Ich bin Ö1-Hörer, und mit der Musik, die ich selber mache, bei uns daheim in Übelbach nördlich von Graz, hab ich das Auslangen." Insgesamt habe die Stadlisierung der TV-Unterhaltung eine Belebung des Selbersingens gebracht: "Das turnt sich gegenseitig an." Dazu seien noch Attwenger & Co. zu zählen, diejenigen, die eigenbrötlerisch "original" weitermachen sowie die, die alles über Bord werfen. "Mit allen diesen Facetten müssen wir umgehen, sie begleiten und moderieren." Unterm Strich kommt für ihn heraus, dass erstens die Volksmusik im Aufschwung ist, wobei die Tatsache, dass es im laufenden Jahr in seinem Bundesland allein 600 Wirtshausveranstaltungen mit gemeinsamem Musizieren gegeben hat, nur ein Indiz darstellt. Zweitens wundert ihn das nicht, weil ja "im Grunde jeder musikalisch ist".

Stimmt das? "Na sicher. Außer es gibt einen organischen Schaden. Aber sonst kommt jeder als Sänger auf die Welt. Die Verluste, die die meisten im Laufe des Aufwachsens erleiden, sind dann kaum mehr wegzumachen, sicher nicht akademisch, eher noch lustvoll in Kursen, wo sich Leute auf die Musik einlassen können."

Wirtshaus- und Kursbesuche mögen gute Indikatoren sein. Doch wie viele Leute in Österreich tatsächlich der Volksmusik passiv oder aktiv nahe stehen, lässt sich kaum feststellen. Die Volksmusikforschung betreibt laut Gerlinde Haid hauptsächlich Regional- und qualitativen Studien. Das liegt daran, ergänzt Alois Mauerhofer vom Grazer Institut für Musikethnologie, dass die einschlägige Forschung empirische Methoden nicht wahrnimmt oder höchstens im kleinen Rahmen. "Auch die Frage, wie viele Menschen diese Musik überhaupt wollen, können wir nicht beantworten." Stattdessen ist man sozusagen auf die Kulturbedeutungsvermutung angewiesen.

Desmond Mark vom Wiener Institut für Musiksoziologie verweist auf Grobschätzungen, die auf Kassetten- und CD-Käufen beruhen (wobei letztere im Zeitalter der digitalen Piraterie immer unpräziser Auskunft geben). Ihnen zufolge dürfte das Interesse an klassischer Musik, gemessen in der Gesamtbevölkerung, bei 8 bis 15 Prozent liegen, an volkstümlicher Musik bei 20 bis 30 Prozent. Die Zahlen für Volksmusik im engeren Sinn liegen nach seiner Schätzung unter 10 Prozent. Ist das wenig? "Was ist wenig?" lautet seine Gegenfrage.

Ob Forschung, Archivierung und Lehre im bisherigen Ausmaß weiter betrieben werden, ist nicht nur eine politische Frage. Hermann Härtel etwa erwirtschaftet Geldmittel durch den Verlag, der auch Anfragen aus Deutschland oder aus Übersee bedient. Aber natürlich hat Volksmusik eine politische Dimension diesseits des "volkstümelnden" nationalkonservativen Ruchs, von dem sie sich seit langem befreien will. "Da geht es um Politikerprestige, aber auch schlicht um Jugendarbeit, die man nicht unterschätzen soll."

"Wir leben von Subventionen", sagt Walter Deutsch. Und wenn sich der wissenschaftliche Knecht vom Weihnachtsmann etwas wünscht, dann das, was viele gerne hätten und nur manche bekommen: "dass Bund und Länder das Florieren unseres Unternehmens weiterhin fördern und ermöglichen." (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 20./21.12.2003)