Der Auftrag, ein sozialempirisches Porträt des "gemeinen" EU-Bürgers zu erstellen, ist in Wahrheit ein Fall für jene Statistiker, die im Auftrag der Verwaltungsmetropole Brüssel an der Homogenisierung Europas Segen spendend mitwirken.

Die Arbeit an einer gesamteuropäischen Friedensordnung schreitet trotz unüberhörbarer Störgeräusche zügig voran. Doch sie steckt auch voller Tücken im Detail: Die Kluft zwischen einer Zentralbürokratie, deren Arbeit sich zusehends der Anschaulichkeit entzieht, und einer sich zügig vergrößernden Masse von Europäern schafft jenes diffuse Unbehagen, das sich häufig in Vorurteilen Luft macht.

Keineswegs linear

Doch selbst unumkehrbare Prozesse schreiten keineswegs linear voran. Der konkrete Schrecken von Bombensendungen an den Kommissionspräsidenten oder an den Zentralbankchef mag den Unwillen radikaler EU-Verweigerer drastisch illustrieren. Repräsentativ für die Stimmung der "Massen" ist er nicht. Noch immer liegt der Horizont des durchschnittlichen EU-Bürgers vor der eigenen Haustür. Zumal die Bewohner der zehn neuen Beitrittsländer tragen der Veränderung ihrer Lebenswelt geradezu aufopferungsvoll Rechnung.

In den osteuropäischen Metropolen feiert die traditionelle Erwerbsarbeit dieselben Krisen, die auch die "kerneuropäischen" Gesellschaften heimsucht. Den Neoeuropäern wird ein hohes Ausmaß an Flexibilität zugemutet; sie sollen an die Kaufkraft von morgen denken, wenn sie im Namen ihrer Volkswirtschaften Entbehrungen auf sich nehmen. Sie müssen auf Umverteilung hoffen - und zugleich jenes Wettbewerbsmodell verinnerlichen, das ihre Industrien absehbar überholt.

Ein noch nicht ganz verwirklichter Prototyp

So nimmt es nicht wunder, dass der "durchschnittliche EU-Bürger" vorderhand ein noch nicht ganz verwirklichter Prototyp ist: Er vertraut im Zweifel noch immer auf die nationale Überlieferung. Er hofft, bald genügend Euros zu verdienen, sodass er die Markenartikel der "freien Welt" in den Shoppingmalls seiner Wahl nicht nur bewundern, sondern auch erwerben kann. Die Empfindlichkeiten der Europäer muss man achten: Wer die vorbildlich herausgeputzten Kulturstädte Zentraleuropas bereist, findet nicht nur Details und Mentalitätsreste aus gemeinsamer Vergangenheit vor. Er wird die kontinentalen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ins Kalkül ziehen - und das "gesunde" Misstrauen einer jahrhundertelang von der "Obrigkeit" gegängelten Öffentlichkeit.

Einigende Symbole

Für die Schaffung einigender, sinnfälliger Symbole muss sich die EU auch im Erweiterungsjahr ins Zeug legen. Denn Verfassungsfragen, so wichtig sie sind, schaffen noch nicht jene affektive Behaglichkeit, von der unsere vernetzte, mediatisierte Welt zehrt. (DER STANDARD, Printausgabe 2.1.2004)