Herta Müllers Romane zählen zu den wichtigsten Werken deutscher Gegenwartsliteratur. Ihre scherenscharfe Prosa stutzt das Gras, das über die Verbrechen der rumänischen Diktatur wächst. Nun hat die Schere surreale Collagen geschnipselt, zu sehen in Salzburg. Mit der Autorin sprach Cornelia Niedermeier.

***

Salzburg - In ihren Büchern verdichtet sie das Unerhörte des Grauens der rumänischen Zwangsdiktatur zu fremden, befremdlichen, ihrerseits unerhörten Bildern. Herta Müllers Romane - Herztier, Der Fuchs war damals schon der Jäger oder Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt buchstabieren das Alphabet der Macht - und jener, die an ihr zugrunde gehen. Einer Macht, der ihre engsten Freunde zum Opfer fielen und die sie selbst mit dem Tod bedrohte, bevor sie 1987 nach Berlin auswanderte. Eine Ausstellung im Literaturhaus Salzburg zeigt nun eine neue, weithin unbekannte Seite ihrer Kunst.

STANDARD: In den 300 Collagen der Salzburger Ausstellung erlebt man eine heitere Herta Müller. Die Motive aus den Romanen kehren mit einer unvermuteten Leichtigkeit wieder, Verletzlichkeit trifft auf Witz.

Herta Müller: In meine Romane kommt diese Seite meiner Person nicht herein. Die Problematik der Prosa ist Diktatur und das Zerbrechen von Menschen. Der Verlust von Selbstverständlichkeit und Angst. Das Thema sperrt sich gegen das Flachsen, den Witz.

STANDARD: In den Collagen schnipseln Sie Wörter aus Zeitungen und Prospekten. Die Sprache des Alltags setzt sich neu zusammen als Literatur.

Müller: Es gibt ja keine "poetische Sprache". Wir sind auf die Sprache der Nichtschreibenden angewiesen. Und wenn wir die so zusammensetzen können, dass etwas Unverhofftes passiert, dann entsteht so etwas wie Poesie. Es sind ja gar nicht meine Wörter. Ich schneide sie aus. Manche Wörter habe ich seit zehn Jahren in der Schublade. Und die kommen nie dran. Die vergilben, das Papier wird anders, auch wenn man es anfasst, es wird porös. Andere Wörter werden hereingeholt und wieder rausgeschmissen. Da denke ich mir auch: Was ist das? Die Wörter sind wie in einem Bahnhof. Sie wollen abfahren und in den Text hinein. Dann werden sie mitgenommen und wieder doch nicht. Es hat so viel mit dem Leben zu tun.

STANDARD: Mit dem Kind Herta Müller im banat-schwäbischen Dorf, das den Zügen nachsah, die in die Stadt fuhren . . .

Müller: Ich habe immer vom Asphalt geträumt! Für mich war Asphalt das glatte Leben.

STANDARD: Und nach 17 Jahren in der Asphaltstadt Berlin?

Müller: Immer noch. Ich brauche täglich meinen Asphalt. Ich möchte nicht der Natur vorgesetzt werden.

STANDARD: In Ihren Texten hat Natur etwas Bedrohliches.

Müller: Das sind Bilder aus der Kindheit. Die Landschaft steht intakt da, während du nicht weißt, wie es weitergeht. Irgendwie ist es ihr total egal. Sie will dich ja doch fressen. Wenn du stirbst, hat sie dich.

STANDARD: Mit der Stadt kam auch die rumänische Sprache.

Müller: Im Lernen des Rumänischen merkte ich, was in den Worten drinsitzt. Welche Bilder. Und wie völlig anders diese Sprache die Welt ansieht. Sie hat für eine Pflanze ein ganz anderes Bild gefunden, weil sie die Pflanze anders sieht. Also zwei völlig verschiedene Pflanzen. Da kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Etwa der Fasan. "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt", das ist eine rumänische Redewendung. Bei uns, im Deutschen, war der Fasan ein Angeber. Aber der Mensch ist im Rumänischen als Fasan ein Verlierer. Der Fasan kann nicht fliegen. Er entkommt dem Jäger nicht. Und wenn das Leben hinter dir her ist, hast du keine Chance.

STANDARD: In Ihren Collagen fliegen die Fasane als Buchstaben und Bilder über das Papier. Die verletzlichen Figuren, die Sie ausschneiden oder zeichnen, fügen Ihrer Sprache eine surreale Dimension hinzu.

Müller: Das ist auch verrückt. Ich kann überhaupt nicht zeichnen. Irgendwie weiß die Schere, wo sie hin will. Ich habe als Kind oft im Bett gelegen und habe die Decke und die Wände angeschaut - die waren mit Kalk geweißt, und dann ist der Kalk geplatzt und hatte lauter Risse und Blasen. Und dann habe ich mit den Augen gezeichnet, viel gezeichnet. Dann wollte ich das mit der Hand. Nichts mehr. Es war sofort weg, es ist geflohen. Ich konnte mit der Hand nichts ausrichten. Ich fühlte mich immer so vernarrt. Das Auge könnte, aber mit dem Auge kann man keinen Stift halten. Und die Hand ist nicht dazu imstande. Ich dachte, das ist das Unpassende an den Körperteilen: Das eine Körperteil könnte das, aber es geht nicht. Und das andere, das es können müsste, bringt es nicht zustande. STANDARD: Nun zeichnen die Augen mit der Schere.

Müller: Wie am Plafond.

STANDARD: Denken Sie manchmal darüber nach, nach Rumänien zurückzukehren?

Müller: Das ist vorbei. Man ist gegangen. Man kommt nicht wieder, wie man gegangen ist. Ich bin mittlerweile fremder in Rumänien als in Deutschland. Ich habe keine Wohnung, kein Besteck, ich habe keine Schuhe. Ich habe ein paar Gräber, wo ich Freunde auf dem Friedhof besuche. Und sehr viele Opportunisten, die mich zehn Jahre lang nicht angeschaut haben, weil es zu gefährlich war. Und die mir jetzt die Wange küssen.

STANDARD: Aber Sie wollen eines Tages die Akten einsehen, die der Geheimdienst über Sie angelegt hat.

Müller: Ich habe es vor zwei Jahren beantragt. Warum nicht? Ich rechne ja mit allen Möglichkeiten. Dann hätte ich eine. Und hoffe, dass die schlimmste nicht zutrifft. Aber in Rumänien sind die Akten nicht bei der Behörde, sondern immer noch beim Geheimdienst. Die arbeiten bereits 15 Jahre an den Fakten. Über die Verbrechen - wer hat Morde begangen, wer hat den Freund aufgehängt, wer hat den Mord in Auftrag gegeben, wer ihn durchgeführt - wird man nichts erfahren. Für diese Dinge wird sich nie jemand verantworten müssen.

(DER STANDARD, Printausgabe, 15.1.2004)