Fast jeder kennt das Phänomen: Da gibt es den 90-Jährigen. Er trinkt täglich Alkohol, raucht seit seiner Jugend ein Päckchen Zigaretten pro Tag und verzichtet nur ungern auf die Fettkruste am Schweinebraten. Und dann der andere, 38 Jahre alt: Lebt gesund, isst wenig Fleisch, treibt regelmäßig Sport, achtet auf sein Gewicht und hat sein Leben lang noch nie eine Zigarette angerührt. Der eine ist kerngesund, der andere erkrankt an Lungenkrebs. Wie kann das sein?

Bei Rätseln wie diesem setzt die moderne Krebsursachenforschung an. Wenn auch eher der umgekehrte Fall Regel ist, so erstaunen diese wundersamen Beispiele stets aufs Neue. Mit den fortschreitenden Erkenntnissen aus Genforschung und Tumorbiologie wissen Wissenschafter zwar längst noch nicht alles, aber doch immer mehr über die Entstehung von Krebs. Mit dem Ziel, bösartige Erkrankungen so früh wie möglich zu erkennen oder ihnen gar vorzubeugen. "Ziel ist, den Tumor zu charakterisieren und eine maßgeschneiderte Therapie zu entwickeln", erklärt Brigitte Marian vom Institut für Krebsforschung in Wien.

Mit den neuen Technologien will man das unberechenbare Verhalten von Krebszellen vorhersagen. Für das Rauchen weiß man etwa, dass im Zigarettenrauch enthaltene Stoffe per se für den Menschen nicht gefährlich sind. Krebs erregend wird der Qualm erst durch so genannte Phase-I-Enzyme. Auf der anderen Seite spielen Phase-II-Enzyme eine wichtige Rolle bei der Entgiftung: "Das Lungenkrebsrisiko könnte, je nachdem, ob jemand viele oder sehr wenige von einem der Enzyme hat, abhängen", vermutet Marian. Das ermögliche das Festmachen von Risikogruppen.

Rotkraut hilft

Zum anderen sei es möglich, durch gesunde Ernährung in ein bestehendes Ungleichgewicht einzugreifen: Studien belegen beispielsweise, dass nach mehrtägigem Konsum von je 300 Gramm Rotkraut ein schützendes Krebsenzym stärker aktiviert wurde. Ähnliches gilt für Kohl, Brokkoli und Kresse. Im Bereich der herkömmlichen Krebsprävention werde zurzeit überhaupt viel geforscht, berichtet Marian: Grüner Tee zum Beispiel wirke aufgrund seiner antioxidativen Wirkung Krebs hemmend. Allerdings: "Die Einzigen, die wirklich ausreichende Konzentrationen zu sich nehmen, sind vermutlich die Japaner." Weitgehend unbekannt ist, was in den Zellen passiert, wenn mehrere dieser Stoffe lange Zeit kombiniert werden.

Vielversprechendstes Instrument bei der Früherkennung von Krebs sind so genannte Biomarker. Dabei handelt es sich um frühzeitige biologische Warnschilder, die ein erhöhtes Risiko im Organismus anzeigen. Das Forschungszentrum Biocrates Life Sciences (Teil des Kompetenzzentrums für Medizin in Tirol) arbeitet gemeinsam mit der Innsbrucker Universitätsklinik für Urologie und dem Institut für Chemie an einem Frühwarnsystem für Prostatakrebs: Mit einfachen Blut-oder Gewebeproben sollen tumorspezifische Proteine nachzuweisen sein.

Frühe Diagnose

"Lange bevor er Beschwerden macht", könne man den Tumor erkennen, glaubt der Biocrates-Forscher Klaus Weinberger. Die Methode kann er sich auch für Brust-, Gebärmutterhals-, Lungen-, Magen- und Dickdarmkrebs vorstellen. Bei jeder Krebsart ist die frühe Diagnose entscheidend für den Therapieverlauf.

Exotisch muten mathematische Ansätze an: Der aus Österreich stammende und in den USA arbeitende Evolutionsforscher Martin A. Nowak will mithilfe von Wahrscheinlichkeitsberechnungen nachweisen, dass der Grundstein so mancher Krebserkrankungen bereits im Embryo gelegt würde. "Durchaus möglich", meint Brigitte Marian und berichtet von Frauen, die während ihrer Schwangerschaft Östrogenersatzstoffe bekamen. "Die Töchter hatten Vaginalkarzinome."

Bei all dem bleibt der Hinweis auf die herkömmliche Vorbeugung. 35 Prozent aller Tumorerkrankungen stünden im Zusammenhang mit Ernährung. Brigitte Marian: "Die größten Risikofaktoren sind immer noch zu viel Fleisch, zu wenig Gemüse, zu wenig Vitamine und Spurenelemente und Übergewicht. Daran hat sich nichts geändert." (Doris Priesching/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19. 1. 2004)