Augenblick der Ruhe im dauernden Kampf um das Glück in der neuen Heimat: Im Film "Solino" hat die erste Generation von Einwanderern ganz andere Träume als die nächste.

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Adatepe ist Ausgangs- und Endpunkt. In einer romantischeren Geschichte als dieser wäre Adatepe eine Metapher für den in sich selbst geschlossenen Kreislauf allen Seins und mit einigen esoterischen Anreicherungen der Dreh-und Angelpunkt eines Schmökers im Stil Rosamunde Pilchers. Hier ist Adatepe ein Ort in der Marmararegion der Türkei, jahrhundertelang vom Sumpffieber und von Überschwemmungen geplagt, ehe ein Staudamm gebaut und fruchtbares Ackerland geschaffen wurde, das der ersten Generation seit Menschengedenken ein leidliches Auskommen sicherte. Bis dahin lebten die Kleinbauern und Häusler vom Weggehen. 1964 entdeckte die Wiener Baufirma Kallinger diese ursprünglichste Ressource Adatepes und begann mit der Anwerbung der ersten Gastarbeiter. Kallinger brachte die Hoffnung nach Adatepe, dass sich das Weggehen ändern und kein endgültiges werden könnte - plötzlich bestand Aussicht auf eine Rückkehr wie im Märchen: reich geworden, das Glück gefunden im Ausland. Seht her, ich habe es gewagt, und ich habe es geschafft.

Heute sind im Einwohnerverzeichnis Adatepes 3000 Menschen eingetragen, weitere 2000 ehemalige Einwohner leben im Ausland, davon die Hälfte in Wien. Die meisten der alten Häuser wurden längst abgerissen, an ihrer Stelle wurden größere, modernere, komfortablere gebaut. Viele davon stehen elf Monate im Jahr leer und werden nur bewohnt, wenn die Besitzer auf Urlaub heimkommen, zu einer Art Erholung, die, egal wie anstrengend, auch Repräsentanz eines gelungenen Lebens sein muss.

Narmanli Han. Im Istanbuler Jugendstilviertel Beyoglu wurde 1964 in diesem historischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert die österreichische Anwerbekommission eingerichtet, die in den nächsten Jahrzehnten türkische Arbeitskräfte anheuern sollte. Die Kommission suchte in der Masse arbeitsloser und -williger Menschen die aus, die den Anforderungen entsprachen: junge, kräftige Arbeiter, die im Idealfall eine solide Berufsausbildung hatten. Die Anwerbestelle überprüfte, ob die Angaben der Bewerber mit den Anforderungen übereinstimmten, überprüfte ein zweites Mal, ob alle Voraussetzungen für die Arbeit in Österreich passten und gab dann das Placet oder auch nicht. Das ging bis zur Schließung der Kommission, bis 1993 so. Heute ist das Gebäude verwaist, die Büroräume stehen leer. Die Nachfrage ist versiegt.

Gastarbeiterroute. Nennen wir ihn Mehmet. Nehmen wir an, Mehmet war 1964 etwa 30 Jahre alt, nehmen wir an, er kam aus Adatepe und sah keine andere Möglichkeit für sich und seine junge Familie, als bei der Firma Kallinger anzuheuern. Mehmet hatte im Narmanli Han seinen Arbeitsvertrag abgeholt, der ihm, schon vom künftigen Arbeitgeber unterzeichnet, übergeben worden war. Im Vertrag waren Stundenlohn, Arbeitszeit, Sozialleistungen aufgelistet, desgleichen wurde ihm mitgeteilt, in welcher Unterkunft er Platz finden werde. Der Lohn klang nicht schlecht - 12 Schilling die Stunde, mehr als er daheim je verdienen konnte. Dass es bloß zehn Schilling wurden, erfuhr Mehmet erst später. An einem Wochenende zog Mehmet seinen Sonntagsanzug an, packte das Nötigste in einen Koffer und stieg mit 50 anderen Männern in einen Bus. Die Busse - oder, wenn mehr als 70 Arbeiter auf einmal abzuholen waren, Sonderzüge der Österreichischen Bundesbahnen - wurden von den Firmen gechartert, bei denen die Männer arbeiten sollten. Für Bulgarien brauchte Mehmet ein Durchreisevisum, es war der heikelste Teil der Strecke, die in den kommenden Jahrzehnten zu einer Hauptverkehrsader der europäischen Migration werden sollte. Eine Diagonale von 3000 Kilometern vom Südosten Europas nach Nordwesten, ein Stückwerk von Autobahnen und Landstraßen, chronisch überlastet von Anfang an, vor allem während der Sommermonate.

Auf diesen Wegen wurde alles befördert, was das Leben dieser Arbeitsnomaden bedeutete - Geschenke und Geld für die Daheimgebliebenen, Informationen, Souvenirs und alle jene scheinbaren Kleinigkeiten, die den Wert einer individuellen Existenz abseits des kollektiven Ausgebeutetwerdens bestimmen.

Wien, Südbahnhof. Hier kamen die Züge und Busse an, in denen nun die übernächtigen und verschüchterten Passagiere von Abgesandten ihrer neuen Arbeitgeber in Empfang genommen wurden. Wie seine Kollegen hatte sich auch Mehmet knapp vor dem Ziel eine Plakette mit seinem Namen sowie dem seiner Firma angesteckt und so auch formal seine Fügung in ein Verhältnis zu seinem Dienstherrn vollzogen, in dem nur eines unveränderlich blieb - wer der Diener und wer der Herr war.

Gemeinsam mit vier Kollegen wurde Mehmet ein Zimmer in einem der Abbruchhäuser zugewiesen, deren Abriss und Neubau das Hauptgeschäft seines Arbeitgebers war. Als das Haus geschleift wurde, übersiedelte der Trupp in ein anderes und immer so weiter. Auf einer Kochplatte bereiteten die Männer die Mahlzeiten zu, die sie mit auf die Baustelle nahmen. Essen im Gasthaus wäre nicht drin gewesen, der Wochenlohn war mit 350 Schilling karg genug. Am Wochenende gingen sie in den Park, das war am billigsten. Hatten sie einige Tage frei, verdingten sie sich als Taglöhner bei den Bauern in Niederösterreich. Nach fünf Jahren war Mehmet klar, dass er so nie zu seinem Haus in Adatepe kommen würde. Es gab zwei Möglichkeiten: heimzufahren und einzugestehen, dass er gescheitert war. Oder seine Familie nachkommen zu lassen und es mit vermehrter Arbeitskraft zu versuchen. Mehmet entschied sich für die zweite Variante und hat es, irgendwie, geschafft. Er lebt heute als Pensionist in seinem Haus in Adatepe. Die Kinder sind in Österreich geblieben, ebenso die Enkel. Seine Frau ist gestorben. "Mir geht es gut", sagt Mehmet. "Ich habe einen gesicherten Lebensabend." (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.1.2004)