Heute sind im Einwohnerverzeichnis Adatepes 3000 Menschen eingetragen, weitere 2000 ehemalige Einwohner leben im Ausland, davon die Hälfte in Wien. Die meisten der alten Häuser wurden längst abgerissen, an ihrer Stelle wurden größere, modernere, komfortablere gebaut. Viele davon stehen elf Monate im Jahr leer und werden nur bewohnt, wenn die Besitzer auf Urlaub heimkommen, zu einer Art Erholung, die, egal wie anstrengend, auch Repräsentanz eines gelungenen Lebens sein muss.
Narmanli Han. Im Istanbuler Jugendstilviertel Beyoglu wurde 1964 in diesem historischen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert die österreichische Anwerbekommission eingerichtet, die in den nächsten Jahrzehnten türkische Arbeitskräfte anheuern sollte. Die Kommission suchte in der Masse arbeitsloser und -williger Menschen die aus, die den Anforderungen entsprachen: junge, kräftige Arbeiter, die im Idealfall eine solide Berufsausbildung hatten. Die Anwerbestelle überprüfte, ob die Angaben der Bewerber mit den Anforderungen übereinstimmten, überprüfte ein zweites Mal, ob alle Voraussetzungen für die Arbeit in Österreich passten und gab dann das Placet oder auch nicht. Das ging bis zur Schließung der Kommission, bis 1993 so. Heute ist das Gebäude verwaist, die Büroräume stehen leer. Die Nachfrage ist versiegt.
Gastarbeiterroute. Nennen wir ihn Mehmet. Nehmen wir an, Mehmet war 1964 etwa 30 Jahre alt, nehmen wir an, er kam aus Adatepe und sah keine andere Möglichkeit für sich und seine junge Familie, als bei der Firma Kallinger anzuheuern. Mehmet hatte im Narmanli Han seinen Arbeitsvertrag abgeholt, der ihm, schon vom künftigen Arbeitgeber unterzeichnet, übergeben worden war. Im Vertrag waren Stundenlohn, Arbeitszeit, Sozialleistungen aufgelistet, desgleichen wurde ihm mitgeteilt, in welcher Unterkunft er Platz finden werde. Der Lohn klang nicht schlecht - 12 Schilling die Stunde, mehr als er daheim je verdienen konnte. Dass es bloß zehn Schilling wurden, erfuhr Mehmet erst später. An einem Wochenende zog Mehmet seinen Sonntagsanzug an, packte das Nötigste in einen Koffer und stieg mit 50 anderen Männern in einen Bus. Die Busse - oder, wenn mehr als 70 Arbeiter auf einmal abzuholen waren, Sonderzüge der Österreichischen Bundesbahnen - wurden von den Firmen gechartert, bei denen die Männer arbeiten sollten. Für Bulgarien brauchte Mehmet ein Durchreisevisum, es war der heikelste Teil der Strecke, die in den kommenden Jahrzehnten zu einer Hauptverkehrsader der europäischen Migration werden sollte. Eine Diagonale von 3000 Kilometern vom Südosten Europas nach Nordwesten, ein Stückwerk von Autobahnen und Landstraßen, chronisch überlastet von Anfang an, vor allem während der Sommermonate.
Auf diesen Wegen wurde alles befördert, was das Leben dieser Arbeitsnomaden bedeutete - Geschenke und Geld für die Daheimgebliebenen, Informationen, Souvenirs und alle jene scheinbaren Kleinigkeiten, die den Wert einer individuellen Existenz abseits des kollektiven Ausgebeutetwerdens bestimmen.
Wien, Südbahnhof. Hier kamen die Züge und Busse an, in denen nun die übernächtigen und verschüchterten Passagiere von Abgesandten ihrer neuen Arbeitgeber in Empfang genommen wurden. Wie seine Kollegen hatte sich auch Mehmet knapp vor dem Ziel eine Plakette mit seinem Namen sowie dem seiner Firma angesteckt und so auch formal seine Fügung in ein Verhältnis zu seinem Dienstherrn vollzogen, in dem nur eines unveränderlich blieb - wer der Diener und wer der Herr war.