Von klein auf wollte Otto Muehl, wie er sich später erinnerte, "ein großer Künstler werden". Er studierte, er praktizierte, er spielte mit Kunst. Und er spielte mit der Aufmerksamkeit, die ihm ein weiteres Mittel war, sein Ziel zu erreichen. Muehl und die veröffentlichte Meinung über ihn, das ist eine Geschichte in vielen Kapiteln. Manche diktierte er, andere wurden gegen seinen Willen geschrieben. Im Laufe seiner Karriere hat er in so viele Leben eingegriffen, dass es nicht wunder nimmt, wenn die Reaktionen auf ihn heftiger ausgefallen sind als auf viele andere, die mit ihm begonnen haben.

Der Wiener Aktionismus war ein frühes Kapitel, zunächst unspektakulär und ohne viel öffentliches Aufheben. Über erste Materialschlachten in Kellern berichteten die Zeitungen, wenn überhaupt, mit typischem Fifties-Wochenschau-Amüsement, vergleichbar den Berichten über - verwandte - Künstler wie Yves Klein: nackerte Madln in Blau usw.

Erst die Aktion "Kunst und Revolution" im Juni 1968 sorgte für überregionale Wellen. Sie ging als "Uni-Ferkelei" in die Skandalisierungschronik ein, Michael Jeannée, nachmaliger Krone-Adabei, prägte das Wort. Die Aktionisten um Muehl, Brus, Nitsch, Schwarzkogler unter Beteiligung von Kren, Weibel, Wiener und anderen hätten zwar ihr Ziel, gegen die "totale österreichische Vertrottelung" (Muehl) anzukämpfen, auch ohne die Hatz gegen sie nicht erreicht, doch nun beschleunigte sich das Ende der Bewegung.

Sie lebte Jahre später in Katalogform wieder auf: als man sich diesseits und jenseits des Ozeans auf Fluxus, Happening, Action-Painting und eben die Wiener besann und sie, bzw. ihre dokumentierte Spuren ausstellte. Das MAK beteiligte sich ab 1998 an der mehrfach gezeigten Schau "Out Of Actions". Das von Danièle Roussel herausgegebene Buch über Muehls Zeit im Gefängnis 1991-1997 handelt im Textteil über weite Strecken vom Aktionismus und seinen kunstgeschichtlichen Wurzeln, wie Muehl sie sieht. Und der im März erscheinende Katalog zur neuen Ausstellung im MAK hat die schwierige Aufgabe, zu dem im Vorfeld ausgetragenen Streit Stellung zu beziehen, ob man den Maler wertschätzen dürfe, ohne den Kommune-Chef und strafrechtlich Verfolgten zu behandeln. In den Beiträgen von Eric Alliez, Michel Giroud und Peter Gorsen wird es jedenfalls um die gesamte Karriere gehen.

In seiner ersten Kommune-Phase ab 1970 vernachlässigte Otto Muehl die Malerei, mehr noch: Er verbot sie sich und anderen zugunsten von "praktischer" Kunst, womit nichts anderes gemeint war als die Erschaffung des neuen Menschen. Dies interessierte die Medien zwar, doch nach einer Phase der Erregung über glatzköpfige LatzhosenträgerInnen verebbte die Berichterstattung. Die Kommune ihrerseits versorgte eine interessierte Gegenkultur fast europaweit mit AA-Kommune-Nachrichten, -Manifesten und einigen Büchern, die ein Amalgam aus Wilhelm Reich, Öko-Grundsätzen (man war ja inzwischen auf den Friedrichshof gezogen) und Muehls Gedanken über die Kleinfamiliengesellschaft enthielten. Die Schriften sind vergriffen, aber in verschiedenen akademischen Arbeiten (siehe unten) nachzulesen. Dort finden sich auch lange Passagen aus Muehls Autobiografie Weg aus dem Sumpf (Nürnberg 1977, ebenfalls vergriffen) und Hinweise auf frühe Sympathisantenliteratur (etwa vom bayrischen Gegenkultur-Guru Raymond Martin).

Spätere, kritischere Medienberichte ab Mitte der Achtzigerjahre (der Stern betitelte seinen Bericht über das Leben auf dem kanarischen Besitz "Sodom und Gomera") waren zugleich Ursache und Folge einer zunehmenden Abschottung der Muehl-Kommune. Sie wurde durchbrochen, als gegen Ende der 80er die Zahl der Aussteiger zunahm. Es stieg das Bedürfnis, über die Erfahrung in dem Muehlschen Lebensexperiment Rechenschaft abzulegen.

Ein Vorgänger dieser Outing-Welle ist Andreas Schlothauer, der 1976 als 17-Jähriger in der Münchner Dependance einstieg, sie 1984 wieder verließ und Ende der Achtziger nach eigenen Angaben "nicht unwesentlich" dazu beitrug, "dass das Muehl-Experiment beendet wurde". In seinem 1992 erschienenen Buch Die Diktatur der freien Sexualität (Verlag für Gesellschaftskritik, Wien) greift er auf die schriftliche Gruppenchronik und viele Audio-und Videokassetten zurück in der Absicht, "die öffentliche Selbstdarstellung Muehls durch die internen Äußerungen und Gespräche zu konterkarieren". Schlothauer schickt voraus, dass seine lange Zugehörigkeit nur verstehbar sei, wenn man auch die angenehmen Erlebnisse in der Kommune bedenkt. Es sei seine Absicht zu zeigen, wie die aufkeimenden Zweierbeziehungen unter den Mitgliedern diese aus dem Machtbereich der Führung "heraussaugten".

Der bei Schlothauer zitierte "Sektenpfarrer" Friedrich-Wilhelm Haack steuerte das Vorwort zu einer Buch gewordenen Warnung vor der Otto-Muehl-Bewegung bei ("Therapie" als Religionsersatz. Die Otto-Muehl-Bewegung. München 1990). Drei AutorInnen stellen darin ohne näher genannte Qualifikationen sozialwissenschaftliche Thesen über die Kommune auf, auch ihre Beziehung zum Friedrichshof bleibt unklar. Schlecht dokumentierte Fallstudien fügen sie zu einem schlampigen, mit vielen empörten Ausrufezeichen garnierten Pamphlet zusammen. Ihren Anliegen tun sie damit keinen guten Dienst.

Für einige Ex-Muehlis war der Auszug ein willkommener Anlass, ihre Uni-Studien (die sie als bürgerliche Marotten aufgeben hatten müssen) nun abzuschließen und als persönliche Aufarbeitung zu gestalten. In ihrer Dissertation interpretiert Claudia Kronig den Zuzug zur Kommune und den Auszug im Rahmen einer Theorie der symbolischen Sinnwelt, in der abweichendes Verhalten stigmatisiert wird und neue Sinnwelten konstruiert werden (Die Kommune Friedrichshof. Transformation der Wirklichkeit und Identität. Ursachen und Prozess der Auflösung. Wien, 1992). So neutral soziologisch das klingen mag - im Vorwort (das sie zu einer subjektiven Standortbestimmung nutzt) dankt sie unter anderem der "Gendamarie (sic) des Burgenlandes" für die "Decharismatisierung von Mühl und seiner Führungsgruppe".

In Toni Elisabeth Altenbergs Doktorarbeit, die als Buch über Mein Leben in der Mühlkommune erschienen ist, geht es um die psychologischen Bedingungen, die in den AA-Gemeinschaften herrschten. Sie exemplifiziert sie anhand der Berliner Kommune, in der die Wienerin von 1984 bis 1990 lebte: Ein reglementierter Alltag sei das gewesen, in dem Geldverdienen, das Anhören von "Dokus" (von Muehl besprochene Kassetten) und der Kampf um eine gute Position innerhalb der Gruppenhierarchie gleichermaßen wichtig gewesen seien. Unter den zahlreichen Ursachen für das Scheitern der Kommune nennt Altenberg zwei scheinbar widersprüchliche: Der Friedrichshof habe keine langfristig praktizierbare Alternative zur herkömmlichen Gesellschaft dargestellt. Zugleich aber wollten die Kommunarden, die oft alles abgegeben und keine Alternative mehr hatten, ein Ende nicht für möglich halten. An dieser Spannung sei das Experiment implodiert, und das noch vor dem Prozess gegen Muehl.

Toni Altenberg kommt zwar zu einem negativen Resümee, versucht aber, im Unterschied zu sensationell aufgebauschter Illustriertenreportage und Sektenbekämpfung, die Geschichte zu verstehen und anderen begreiflich zu machen. Also sitzt sie zwischen den Stühlen: dem Ex-Chef eine Verräterin, den Muehl-Gegnern nicht kritisch genug. Irgendetwas dürfte sie richtig gemacht haben.

Ähnlich Tonis zeitweiliger Mann Theo Altenberg (die Kommunarden sollten ja ab ca. 1974 aus taktischen und finanziellen Gründen formal verheiratet sein). Er kam 1973 als junger deutscher Multimedienkünstler nach Wien und dokumentierte das Experiment im Burgenland in den Siebzigern. Die Fotos in seinem vor einigen Jahren veröffentlichten Buch Das Paradies Experiment zeigen Aktionsanalysen und Ackerbau, Tischlern, Traktorfahren und immer wieder Selbstdarstellungen vor der Gruppe: zu ungeschminkt und direkt fordernd, als dass Voyeure ihre Freude daran hätten.

In dem abgedruckten Gespräch, das er mit dem Schweizer Kulturpublizisten Paolo Bianchi führt, zieht Theo Altenberg ein ernüchtertes Resümee. Er wollte zwei Jahre bleiben, sagt er, mit dem Ziel, "meine Sensibilität und Kommunikationsfähigkeit in der Sexualität (zu) entwickeln". Was mit der erklärten und aufregenden Absicht der Tabulosigkeit begann, führte aber zu neuen Tabus, auch "als Abgrenzung zu den immer mehr werdenden anderen". Zu Beginn der Phase, "die wir ironisch den ,neuen geilen Kapitalismus' nannten", ging er nach Düsseldorf und geriet in den Bannkreis um Beuys. Ihn empfand er als introvertierten Schamanen, Muehl hingegen kämpferisch, offensiv, "ein typischer Exponent des österreichischen Sarkasmus".

Auch nach der Trennung blieb Altenberg mit dem Friedrichshof in Verbindung, betreute das Kunsterbe und mittelte zwischen Muehl und der anreisenden Kunstwelt, darunter Günter Brus, Georg Dokoupil und Harald Szeemann. (Brus distanziert sich übrigens in einem Essay in Altenbergs Buch von dem Rummel, der um den Friedrichshof gemacht wurde. Er ist wahrscheinlich der Weggefährte Muehls, der sich am deutlichsten gegen seine Kommune-Karriere und die Begleiterscheinungen ausgesprochen hat; Muehl führte das kürzlich in einem Gespräch auf alte Eifersucht zurück.)

Eine Nachlese zum Geschehen veröffentlichte auch Robert Fleck, bis vor kurzem Leiter der Kunsthochschule in Nantes und nunmehr der Deichtorhallen in Hamburg. Er ist nur ein eher indirekt Betroffener: Als Jugendlicher erlebte er den wachsenden Rummel beim Herrn Muehl in der benachbarten Wohnung in der Praterstraße, später lief sein Kontakt zum Friedrichshof über die Kunstsammlung.

Das im vergangenen Jahr erschienene Buch beruht auf Interviews und Mitschriften, die in redundanter Weise die Entwicklung resümieren. Interessant sind viele Beobachtungen am Rande, etwa der "Kommune-Tonfall" seiner Gesprächspartner, der Vergleich zwischen den zeitgleichen Schwächeanfällen von Muehl und von Ceau¸sescu und die Schilderung des Prozesses gegen Ersteren als "heiße Verbindung von medienträchtigen Klischees". Eine sorgfältigere Lektorierung hätte unter anderem ergeben, dass die Parndorfer Heide kein Hochplateau ist und Warhol 1968 kein Opfer eines Attentats war. Muehl lehnt naturgemäß auch Fleck als befangen und gestört ab, obwohl er immerhin noch vor wenigen Jahren nach Nantes zu einer Präsentation eingeladen worden ist.

Ist der Prozess gegen Muehl ein Wendepunkt in der Einschätzung seines Lebens und seiner Wirkung? Die einen sahen sich bestätigt, andere dachten um, wieder andere trennen zwischen dem Werk und dem Menschen. Gleichgültig lässt er kaum jemanden (und damit ist er immer noch an einem seiner früh gesteckten Ziele: épater le bourgeois).

Die wohl ausgewogenste und beste Arbeit über den Bürgerschreck erschien noch vor der Anklage wegen Pädophilie und enthält dennoch den ganzen Sprengstoff der letzten 40 Jahre: die leider nicht als Buch erhältliche Geschichtsdissertation von Nikolaus Helbich Der Friedrichshof. Utopisches Modell und konkrete Geschichte (Wien 1990). Mit unbeirrbarer Genauigkeit fügt der deutsche Exkommunarde die Mosaiksteine zu einem Bild, das keineswegs eindeutig, vielmehr für Deutungen offen ist. Woran mag es zum Beispiel liegen, dass so viele Menschen ständig jubelnd applaudierten? Inwieweit steckte hinter Muehls Inszenierungen bäuerliche Grobheit, inwieweit Selbstironie? Vielleicht, schließt der Autor, war das Ende der Kommune eine Konsequenz aus der Krise der gesellschaftlichen Situation Europas.

Helbich blickt ohne Zorn zurück auf seine burgenländische Zeit. "Ich sehe sie zum großen Teil sehr positiv", sagte er vor wenigen Tagen, "ich habe extrem viel gelernt." Heute betreibt er ein Unternehmen in New York und Hamburg: Beratung bei Gesundheitsvorsorge. (DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.2.2004)