Michael Braungart entwickelte Materialrezepturen, die den Sessel "Mirra" (Herman Miller) wiederverwertbar machen.

Foto: Hersteller

Auch deshalb zählt der Chemiker z. B. für das "Time Magazine" zu den Ökohelden.

Foto: Hersteller

Die Welt von morgen sei immer zum Greifen nahe, sagt Michael Braungart. Der Professor für Chemische Verfahrenstechnik und einstige Greenpeace-Aktivist - zerzauste Haare, knittriges Hemd - springt von seinem Stuhl auf, hastet auf Socken durch sein Hamburger Büro und nimmt eine Babywindel. Braungarts Augen leuchten, seine sanfte Predigerstimme tanzt. "Diese Windel ist biologisch abbaubar. Man könnte sie noch mit Samen für Bäume versehen. Wenn sie sich also zersetzt, setzt sie die Samen frei, und es wachsen Bäume aus der Windel."

Drei Dinge stellt man nach dieser Einlage an einem regnerischen Morgen in der Stadt an der Elbe fest. Erstens: Wow. Zweitens: Verrückt. Drittens: Versucht Braungart gerade zu sagen, dass man Öko lebenslustig betreiben kann? Augenblicklich ist Braungart in seinem Element. "Wir haben die Natur so lange misshandelt, dass wir nun ein schlechtes Gewissen dafür haben. Deswegen haben vor allem wir Deutschen die Natur romantisiert. Nach dem Motto: Die Natur ist gut, wir sind schlecht. Schluss mit dem Schuldmanagement im Umweltschutz. Wir müssen aufhören, uns als Fremdkörper auf der Erde anzusehen. Auch wir könnten nützlich in der Natur sein", sagt der 50-Jährige. Für diese Aussage zieht er ein krabbelndes Beispiel heran: die Ameisen. Obwohl Ameisen viel zahlreicher wären als die Menschen, würden sie kein ökologisches Problem darstellen - und zwar weil sie keinen Abfall produzieren, sondern einzig Nutzstoffe, die wiederverwertet werden können. "Alle Ameisen dieser Welt wiegen viermal mehr als die gesamte Menschheit. Dennoch haben wir kein Überbevölkerungsproblem in Sachen Ameisen. Im Gegenteil: Je mehr Ameisen es gibt, desto besser ist das beispielsweise für den Regenwald. Ameisen sind nützlich", doziert Braungart. Es wäre dumm, sich daran nicht ein Beispiel zu nehmen. "Wir haben kein Ethikproblem im Umweltschutz, wie es uns Leute wie Al Gore weismachen wollen, sondern ein Qualitätsproblem. Wenn ein Produkt mich krank macht, dann ist es von schlechter Qualität."

"Cradle to Cradle"

Braungart nennt sein visionäres Öko-Prinzip "Cradle to Cradle" (C2C), auf Deutsch: von der Wiege zur Wiege. Alle Produkte landen darin nicht, wie es heute der Fall ist, nach ihrem Verbrauch auf der Müllkippe, sondern sie bleiben in einem biologischen Kreislauf, weil sie so hergestellt werden, dass sie abbaubar, kompostierbar oder wiederverwertbar sind. Erst wenn es diese Prinzipien erfülle, sei ein Produkt intelligent und damit auch gut. "So können wir wunderbar verschwenderisch leben, ohne uns ständig schuldig fühlen zu müssen, dass wir zur Vernichtung der Erde beitragen."

Braungart öffnet einen Schrank. "Hier", ruft er und greift nach einem T-Shirt vom deutschen Sportartikelhersteller Trigema. "Komplett kompostierbar." Aus einem anderen Schrank nimmt er einen schwarzen Turnschuh. "Okay, der sieht vielleicht noch nicht so gut aus", sagt er und lächelt. "Aber auch dieser Nike-Schuh ist komplett abbaubar." Im Prinzip müsse alles essbar sein, meint Braungart.

Für technische Geräte wie Fernseher, Autos oder Flugzeuge hält er eineandere Lösung bereit. Mit dem weltweit größten Teppichbodenhersteller, der US-Firma Shawn, hat Braungart einen Teppich aus wiederverwertbaren Stoffen entwickelt. Den Teppich nimmt der Hersteller zurück, wenn der Kunde einen neuen will. Für Ford haben Braungart und seine Partner in einem Modellversuch ein Auto entworfen, das dem Kunden für maximal fünf Jahre Autofahren verkauft wird, inklusive 100.000 Kilometer, Steuern, Treibstoff, Wartung und Versicherung. Nach dieser Zeit kann der Wagen in seine wiederverwertbaren Einzelteile zerlegt werden, die der Hersteller für einen neuen Produktionsgang benutzt.

"Einfach intelligent produzieren"

Über 600 Produkte hat der gebürtige Schwabe mit seinem 1987 gegründeten EPEA-Institut entworfen. Zu seinen Kunden gehören Nike, Volkswagen, Ford oder Unilever. 30 Mitarbeiter beschäftigt er heute in Hamburg, mit denen er weltweit Firmen, Universitäten und Regierungen berät, die sich für das "Cradle to Cradle"-Prinzip interessieren. EPEA definiert Substanzen, die weiterverwertbar sind, und entwickelt Baukästen für Produkte, mit denen Firmen das von EPEA entworfene "Cradle to Cradle"-Zertifikat erhalten können. Mit seinem Partner William McDonough, mit dem er auch das Buch "Einfach intelligent produzieren" verfasst hat, betreibt er in den USA darüber hinaus eine Design- und Entwicklungsfirma mit 200 Mitarbeitern. Zudem kooperiert er bei der Entwicklung von neuen Substanzen mit "Material Connexion", dem weltweit führenden "Scout" für innovative Materialien und Technologien in den unterschiedlichsten Branchen - von der Automobilindustrie, Luft- und Raumfahrt über Textil, Mode und Sport bis hin zu Elektronik- und Konsumgütern. Für das Time Magazine ist er einer der neuen Öko-Helden. Der US-Regisseur Steven Spielberg war von Braungart so begeistert, dass er ihm zwei Millionen Dollar für seine Arbeit spendete und nun einen Dokumentarfilm über ihn plant.

"Neue industrielle Revolution"

In den Niederlanden ist Braungarts Öko-Vision mittlerweile ein durchschlagender gesellschaftlicher Erfolg. Universitäten, Verwaltungen und Firmen wollen Braungarts Idee folgen. Und auch in Österreich, wo er bereits mit Firmen wie Backhausen oder Lenzing, einem Entwickler von Biofasern, kooperiert hat, sieht er eine gute Chance für seine Idee. Das Know-how und die Technik seien vorhanden. "Aber anscheinend fehlt noch der Wille. Meistens bleibt es leider bei der Konzeption."

Braungart ist ein Provokateur, ein Querdenker, aber ein begeisternder. Er fordert nichts weniger als eine "neue industrielle Revolution", die nicht auf Öko-Effizienz, sondern auf "Öko-Effektivität" beruht. "Wir haben zwar den Verbrauch von Schadstoffen minimiert", erklärt der Professor, "aber die Umwelt belasten wir immer noch. Es ist dasselbe, als wenn ich mein Kind nur noch zweimal am Tag schlage. Aber schlagen tue ich es immer noch. Die Öko-Effizienz haben wir optimiert, perfektioniert. Aber sie sorgt nur dafür, dass die Zerstörung der Natur langsamer verläuft." Nur mit der Öko-Effektivität sei die Zerstörung langfristig zu stoppen. "Effektiv ist das, was richtig und intelligent ist." Die Österreicher würden das besonders gut verstehen. "Ein Kaffeehaus ist vollkommen ineffizient", erklärt Braungart. "Aber wenn man bedenkt, dass man dort Kontakte pflegt, Ideen austauscht und Geschäfte macht, kann man sich kaum einen effektiveren Ort vorstellen." (Ingo Petz/Der Standard/rondo/05/09/2008)