Schwindelfrei oder nicht, das ist hier die Frage in über 300 Meter Höhe in einem Glaskubus, der aus der Fassade auskragt und den Blick auf Melbourne freigibt.

Foto: Eureka Skydeck 88
Grafik: DER STANDARD

Nichts als Superlative! In nur 40 Sekunden saust der schnellste Lift der südlichen Hemisphäre hinauf zum höchsten Observation Deck der südlichen Hemisphäre oben im 88. Stockwerk. Wahrlich, der Ausblick auf Melbourne ist spektakulär, seltsam entrückt wirken sie, die Hochhäuser des Businessviertels der Southbank, der Federation Square drüben auf der anderen Seite des Yarra River, die Parks und Sportanlagen und ganz in der Ferne das Meer.

Wem diese Aussicht aus knapp 300 Meter Höhe noch nicht Thrill genug ist, macht sich bereit für "The Edge". Eine Weltneuheit auch das, ein Würfel, der sich aus dem Eureka Tower hinausschiebt, rundum Glas, und wer sich traut, steht mittendrin. Das Herzklopfen stellt sich erst ein, als die Schwindelfreien mit OP-Schuhen ausgestattet werden, die über die Straßenschuhe zu ziehen sind, damit das 45 Millimeter dicke Glas des Kubus nicht zerkratzt wird.

Während der Würfel langsam hinausfährt ins Nichts, ist das Glas blind, um dann, dank moderner Ingenieurskunst, in einem Moment größter Theatralik auf durchsichtig umzuspringen und den Abgrund unter den Füßen preiszugeben. Instinktiv stellen sich alle auf die stählernen Träger, aber schummeln gilt nicht, und nach wenigen Momenten schon ist die Überzeugung da, dass die Augen trügen und "The Edge" wirklich trägt.

Nach wenigen Minuten ist der Spuk sowieso vorbei, der Würfel wird eingefahren, und die Fotos sind an der Kasse abzuholen. Erstaunlich viele Besucher zahlen für die schreckensstarren, amüsierten oder betont gelassenen Mienen gerne extra. Das gelbe Plastikarmband mit der Aufschrift "I survived the edge" gibt es gratis.

Eine "Disney Experience" nennt die Designerin Fiona Sweetman Erlebnisse dieser Art. Rauf, rein, raus, schnell, schnell und in jeder Stadt gleich oder ähnlich auf der Welt. Deswegen hat sie vor fünf Jahren die "Hidden Secrets Tour" erfunden. Sie führt Besucher einen Vormittag lang durch die Stadt, wie es sonst nur Freunde tun würden. Zeigt die spannendsten Geschäfte, weiß, wo man den besten Caffè Latte kriegt und handgemachte Knöpfe. An diesem Morgen startet die "Art & Design Tour" in der Flinders Lane im Zentrum der Stadt. Bis in die 70er-Jahre war hier das Textilviertel, und heute findet man hier einen Designladen nach dem anderen - wenn man weiß, wo man ihn suchen muss. Eine unscheinbare Stiege führt hinunter zu "e.g.etal", einem Schmuckgeschäft mit Objekten von jungen Designern aus Australien und Neuseeland.

Gleich nebenan bei "Christine" gibt es Vintage ebenso wie IT-Bags und prachtvolle Hüte für die hier sehr beliebten Pferderennen. Die Namensgeberin selbst thront ebenso prachtvoll und ein wenig respekteinflößend hinter der Budel, ohne Fiona hätte man sich vielleicht nicht hereingetraut, aber die quirlige Rothaarige mit den dicken Armreifen bricht schnell das Eis: "Hi, Christine! Ihr müsst wissen, Christine war die Erste, die vor 30 Jahren Fendi nach Australien gebracht hat - schaut euch ruhig alles an."

Ähnlich verhält es sich in den anderen Geschäften, Fiona kennt alle, und alle kennen Fiona, die Drei-Millionen-Stadt Melbourne ist auch nur ein Dorf, aber ein ganz schön schräges. Im Nicholas Building, einem Büroturm aus dem Jahre 1926, hängt schon die Herbstkollektion bei "Alice euphemia", im ersten Stock gibt es einmal im Monat Wechselausstellungen, derzeit eine "Pasta Collection" mit Schmuckstücken, die diversen Nudelsorten nachempfunden sind, also zum Beispiel einen Farfalle-Ring oder eine Rigatoni-Kette.

Im zweiten Stock verkauft Kate Boulton in ihrem Geschäft handgemachte Knöpfe; und dank Fiona dürfen auch Laien im Hinterzimmer Hand an die über hundert Jahre alten Maschinen legen und einen eigenen Knopf produzieren. "Die Mädels von ,Genki' im Erdgeschoß waren die Vorreiter für den japanischen Girlie-Look in Australien", erzählt Fiona, "derzeit verlegen sie den Shop aber ganz ins Internet."

Ein anderes Verkaufsmodell erproben ein paar Gassen weiter in der Chapel Street junge Leute mit "Design a space". Hier kann sich jeder Designer, der sich keinen eigenen Shop leisten kann oder will, einmieten. Mit einem Regalbrett, einem Kleiderständer oder einer ganzen Wand. Entsprechend vielfältig sind Angebot und Preisgestaltung. Mit zwei bis maximal acht Personen ist Fiona unterwegs, aufgrund der großen Nachfrage arbeiten schon fünf Freundinnen für sie, alle mit speziellem Fokus und Know-how, so wird zum Beispiel auch eine Architekturtour angeboten.

Ein ähnliches Konzept hat Michelle Matthews entwickelt. Sie hat ihre Lieblingsbars in einem zigarettenschachtelgroßen Stadtführer zusammengefasst. Jede Bar ist mit einem Bild und einer Kurzbeschreibung auf einer Karte dargestellt, auf deren Rückseite der jeweils treffende Ausschnitt des Stadtplans zu sehen ist. "Das Ganze gibt es jetzt aber auch als iPhone-Applikation", erklärt die smarte Enddreißigerin, während sie zielsicher auf eine unbeleuchtete Tür zusteuert, hinter der sich das "1806" verbirgt.

Während viele Lokale um den zentralen Hauptbahnhof schon um 22.30 Uhr schließen, geht es hier um diese Zeit erst richtig los. Rot (die Tapisserien) und Dunkelbraun (die Bar) sind die vorherrschenden Farben im "1806", Relikte aus seiner Zeit als "Tikki & John's Theater Café". Traditionsbewusst gibt sich auch die Getränkekarte, Drinks aller Dekaden sind aufgelistet und erklärt. Melbournes ältestes erhaltenes Cocktailrezept, so erfährt man, hört auf den schönen Namen "Blow your skull off" und enthielt zumindest um 1850 Opium als einen wesentlichen Bestandteil. Der neueste Schrei ist allerdings eine Kreation der Molekularküche, wird "Sapphire Cilantro" gerufen und kommt daher wie ein Dessert - nämlich warm und im Glas: ein Drink zum Löffeln. Nicht ausgeschildert und somit fast unauffindbar ist das "New Gold Mountain", eine asiatisch angehauchte Bar für junge Semester. Ironische Zitate erinnern an die chinesischen Einwanderer, die in der Zeit des großen Goldrauschs nach Victoria kamen, an der Fassade hängt ein Fahrrad. Noch schräger sitzen die Kreativen bei "Madame Brussels", das ganze Lokal ist mit Kunstrasen ausgelegt, das Personal serviert im Tennisdress, wer will, zieht sich in die Indoor-Gartenlaube zurück, im Hinterzimmer wird gepokert. Am Wochenende wird hier angeblich gern auf den Tischen getanzt, aber am Samstag wartet ein anderes Rendezvous. Nur knappe zwei Stunden von Melbourne entfernt liegt Phillip Island, das mit seiner Seerobbenkolonie und einem Koala-Park ein beliebtes Naherholungsgebiet ist. Der Phillip Island Nature Park war von den verheerenden Waldbränden dieses Winters nicht betroffen, und auch die anderen Nationalparks in Victoria sind wieder zugänglich. Die Hauptattraktion der Insel sind die kaum zwei Hand großen Zwergpinguine, die hier Abend für Abend zu Hunderten an Land kommen und von ungefähr ebenso vielen Touristen bestaunt werden.

Eine spannende Alternative bietet die "Ultimate Penguin Parade Experience", zu der sich maximal zehn Personen pro Tour anmelden können. Diese werden mit Anorak, Überhosen, Rucksack und einem Nachtsichtgerät ausgestattet. "Die Taschenlampen sind nur für den Rückweg gedacht", erklärt Rangerin Claire Gormon. Sie begleitet die Gruppe in der anbrechenden Dämmerung an einen weniger frequentierten Strand.

"Hier zwischen den Dünen gehen die Pinguine zu ihren Schlafplätzen an Land", erklärt sie. "Wir setzten uns in den Sand und verhalten uns ruhig." Für die erste halbe Stunde bleiben ein angespültes Hai-Ei, schwarz und flach, sowie ein gelangweilter Kormoran die einzigen Gäste. Erst als das Tageslicht über der Brandung fast verschwunden ist, kräuselt sich das Wasser V-förmig, und die erste Gruppe Pinguine wagt sich an Land.

So flink sie im Meer sind, so unbeholfen wirken sie im Sand. Die 20, 30 Meter bis zu den niedrig bewachsenen Dünen sind für sie die neuralgische Zone, in der sie leicht die Beute ihrer natürlichen Feine werden. Keine Katze, kein Fuchs zeigt sich an diesem Abend, und während sich am Himmel langsam das Kreuz des Südens zeigt, watscheln die Kleinen ungestört zu ihren Brutplätzen. Und feiern dort ihre Party, mit viel Geschrei und ganz ohne Kunstrasen und Tennisdress. (Tanja Paar/DER STANDARD/Rondo/22.5.2009)