Mehr als 100.000 Buddhastatuen gibt es in den Longmen-Grotten.

Foto: Alex Kwok/wikimedia.org

Man wagt es kaum, den unnahbar wirkenden jungen Mann im safrangelben Gewand und dem Räucherstäbchen in der Hand anzusprechen. Schließlich ist er augenscheinlich ein echter Shaolin-Mönch. Etwas entrückt steht er in der Anlage jenes Klosters herum, wo vor vielen Jahrhunderten Shaolin Kung Fu erfunden wurde.

Darf man einen Mönch wirklich bei seinem Vergeistigt-Sein stören? Aber ja, sagt die Führerin, die den Langnasen aus dem Westen das Kloster-Areal erklärt. Also erzählt der 21-Jährige namens Yan Rong etwas schüchtern, dass er täglich um halb fünf Uhr in der Früh aufsteht und dann einmal ein bis zwei Stunden sitzend meditiert. Vier bis sieben Stunden sind dann für die eigentliche Arbeit im Kloster vorgesehen. Und eigentlich interessiere er sich mehr für die Lehren des Konfuzius als für den Kampfsport.

Der Kult um Wushu, wie die legendären Kampfkünste der Mönche eigentlich heißen, hat rund um das Kloster einen veritablen Freizeitpark entstehen lassen, wie sich beim Rundgang herausstellt. Neben einem Tourismusbüro gibt es ein Restaurant namens "Shaolin - The Stage of Joy" sowie zahllose Souvenirläden. Der Renner: Fotos von Wladimir Putin, der kürzlich auch da war.

In der nahe gelegenen Veranstaltungshalle gibt es für Touristen stündlich Wu- shu-Vorführungen, die im stolzen Eintrittspreis von umgerechnet zehn Euro enthalten sind. Geld wird mit dem Markenzeichen Shaolin aber auch noch ganz anders verdient: Rund um die Stadt Dengfeng in der Nähe des Kloster gibt es zahlreiche Schulen, die eine für chinesische Verhältnisse sehr teure Ausbildung anbieten und - gegen noch mehr Geld - auch Kinder aus dem Westen aufnehmen.

Das Shaolin-Kloster liegt am Fuße des Berges Songshan im Herzen der Provinz Henan, mitten im Reich der Mitte. Die Region eine gute Flugstunde südlich von Peking ist gerade einmal doppelt so groß wie Österreich, hat allerdings ziemlich genau 100 Millionen Einwohner. Henan gilt außerdem als die kulturelle Wiege Chinas: Die chinesische Schrift wurde dort ebenso erfunden wie eben Shaolin Kung Fu. Konfuzius lebte in der Gegend und auch Laotse. Und das I Ging, das Buch der Wandlungen, stammt ebenfalls aus Henan.

Wie ein offenes Buch der Wandlungen liest sich auch die Region, wo man sich wohl auch wegen der atemberaubenden Modernisierung seit einigen Jahren auf das reiche historische Erbe besinnt. Dieses Erbe wird nicht nur touristisch erschlossen, sondern auch in die gewaltige Entwicklungsdynamik Henans buchstäblich eingebaut. Wie zum Beispiel in Henans Hauptstadt Zhenzhou.

In der Siebenmillionenstadt errichtet man gerade auf einer der größten Baustellen der Welt ein riesiges neues Stadtzentrum nach den Plänen von Kisho Kurokawa, der vor ein paar Jahren für die Umsiedlung der kasachischen Hauptstadt zuständig war. Im Zentrum der gigantischen Anlage wird spätestens bis 2020 ein 380 Meter hoher Wolkenkratzer stehen, der in seiner Form der Songyue-Pagode in der Nähe des Shaolin Klosters nachempfunden wird. Und die ist immerhin schon 2500 Jahre alt.

Noch einmal fast 1000 Jahre älter sind die Orakelknochen, die in einem Museum bei Anyang ausgestellt werden, einer Fünfmillionstadt nördlich von Zhengzhou. Das Besondere an den unscheinbaren Knochen bzw. Panzern von Schildkröten: Sie enthalten die Vorformen chinesischer Schriftzeichen - und sind mithin die ältesten Zeugnisse einer heute noch in Gebrauch befindlichen Schrift. So erklärt sich vermutlich auch der Soldat mit dem Maschinengewehr, der über die Knochen und die anderen uralten Relikte der chinesischen Kultur wacht, die in Henan ihren Ausgang nahm und in der Gegend noch viele andere eindrucksvolle Spuren hinterließ - so sie nicht von der Kulturrevolution Maos zwischen 1966 und 1976 zerstört wurden.

Ein wenig gelitten haben darunter zum Beispiel die mehr als 100.000 Buddhastatuen in den Longmen-Grotten sowie die Orakelknochen eines der zahlreichen Unesco-Weltkulturerbe Henans: Auf rund einem Kilometer Länge wurden in die Felsen am Fluss Luo mehr als Tausend künstliche Grotten in den Stein gehauen, um darin eine oder mehrere Buddhastatuen herauszumeißeln - von zwei Zentimetern bis zwanzig Metern Größe.

Die Longmen-Grotten sind südlich der Sechsmillionenstadt Luoyang gelegen, die ebenso wie Anyang früher einmal chinesische Hauptstadt war und heute immerhin noch als die Welthauptstadt der Pfingstrosenzucht gilt sowie als Heimat des sogenannten 24-gängigen Wasserbanketts (für die 24 Hauptstadtjahre).

Das Essen in Henan ist wieder eine eigene Sache, und auch hier scheint zu gelten, was man sonst eher über südlichere chinesischen Provinzen sagt: dass alles gegessen wird, was vier Beine hat (außer Sessel und Tische), was fliegt (außer Flugzeuge) und was im Meer schwimmt (außer U-Boote). So kommt man bei den Festessen schon auch einmal in den Genuss von frittierten Skorpionen, Haifischinnereien, Eselsfleisch oder Fröschen in Sauce.

Falls man sich - aus welchen Gründen auch immer - die Verdauung ruiniert, kann man auch und zumal in Henan auf mehr oder weniger traditionelle chinesische Medizin als Gegenmaßnahme bauen. Verabreicht wurde die im konkreten Fall von Herrn Zhou, dem chinesischen Reisebegleiter, und bestand zunächst einmal darin, ätherisches Öl in den Bauchnabel getropft zu kriegen.

Als TCM-Heilgetränk wurde dem Patienten fortan literweise heißes Cola mit Ingwer gereicht. Unorthodox waren nicht zuletzt die Akupressuren des gestrengen Reiseleiters, der wohl auch wegen seiner Militär-Vergangenheit über einen festeren Zugriff verfügte und auch die Fingernägel heftig zum Einsatz brachte. Auf die Frage, warum er denn so einen langen kleinen Fingernagel hat, musste er freilich sehr lachen: "Na um sich die Ohren besser reinigen zu können." Und der Patient war spontan geheilt. (Klaus Taschwer/DER STANDARD/Rondo/19.6.2009)