Um die vorletzte Jahrhundertwende hat alles begonnen: Eine Bergbaugesellschaft nahm sich nördlich des Polarkreises den bislang bedeutungslosen Berg namens Kiirunavaara zur Brust, der in der Folge den Mythos vom Schwedenstahl nährte. Bloß als Nebenprodukt entstand eine Stadt, Kiruna, die jetzt, wo die Mine in 1350 Meter Tiefe vorgedrungen ist, ein kleines Problem hat: Sie muss um rund vier Kilometer verschoben werden. Vermutlich nach Nordwesten. Ein städteplanerisches Novum, auch im pragmatischen Schweden. Das Eisenerz, Basis der Stadt, hat Kiruna den Boden entzogen.
Wenn Helen Karlstroem ihren Volvo einparkt und auf die Veranda ihres Hauses zusteuert, mischt sich zur Vorfreude auf das nachmittägliche Häferl Kaffee neuerdings auch ein wenig Abschiedsgefühl. Ihr Haus wird unter den ersten sein, die umziehen müssen. Weil es drüben, am nicht allzu weit entfernten Minengelände, diese längst sichtbaren Sprünge im Boden gibt. Wie nach einem Erdbeben sehen die Erdspalten aus, dabei folgen sie lediglich montanistischer Logik: Wo die Ader verläuft, wird gegraben und gesprengt.
Bereits jetzt durchzieht ein dreihundert Kilometer langes Netz den Untergrund und macht die Mine zum größten unterirdischen Förderplatz der Welt. Und seit einigen Jahren steht fest: Die erzhaltige Schicht verläuft genau unter Kirunas Zentrum. Seither wird der Umzug einer ganzen Stadt vorbereitet. Ein einmaliger Präzedenzfall, dabei war die polare Minenstadt doch eigentlich als Modellfall gedacht.
Neue Würfel unter Kegeln
"Zigaretten-Schachteln" hießen sie bei den Samen, die lieber in ihren spitzkegeligen Zelten blieben. Und: "Schweine-Würfel". Denn das Holz, aus dem die fremden Siedler ihre groben Behausungen zimmerten, rekrutierte sich aus dem damals angefallenen Verpackungsmaterial. Gebaut wurde mit den Latten der Container, in denen das zum Überleben Notwendige in die schwedische Tundra kam: Schweinefleisch für ausreichend Muskelschmalz während der harten Arbeitszeit. Und Zigaretten. Für die Illusion, auch im menschenleeren Norden ein wenig blauen Stadtmief atmen zu können.
Die kleinen Häuser, die ganz in den Anfängen der Stadt aus Abfällen gebaut wurden und die in Kirunas Museum von den ersten Schritten einer Besiedelung erzählen, sind heute längst verschwunden. Sie haben Betonwürfeln Platz gemacht und den im traditionellen Falun-Rot gestrichenen Holzhäusern, die sich nun über eine weite Fläche erstrecken.
Mit beinahe 20.000 Quadratkilometer Gemeindegebiet für etwas mehr als 20.000 Einwohner ist Kiruna eine der flächenmäßig größten Städte der Welt. Sie ist so weitläufig, dass sich die meisten Häuser verschreckt gegen ein locker bebautes Zentrum kuscheln. Unmittelbar daneben beginnt die Wildnis der Vorstadt mit sechstausend Seen und mit sechs unberührten Flüssen, die diesen Teil Kirunas zum besten Raftingrevier Schwedens machen. Zum berühmten Eishotel, das seit 1991 im benachbarten Jukkasjärvi aufgebaut wird, ist es nur ein Rentiersprung.
Keine Frage: Schwedens nördlichste Stadt ist ein sonderbarer Ort. Keine Gegend, in der sich das skandinavische Idyll vom milden Altweibersommer mit praller Moltebeeren-Süße einstellen will. Ein im Stufenschnitt des Erzabbaus eckig gemeißelter Berg drängt stattdessen ins Bild. Und natürlich viel blassblauer Himmel, dem man im Übrigen kein bisschen trauen sollte. Schon gar nicht im Winter, wenn der eisige Wind hier in die Knochen und durch die Streben der trotzig auskragenden Holzveranden fährt.
Kiruna ist ein Stück Zivilisation, das sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt hat und das der Uraltgeschichte vom brutalen Zugriff der Natur noch eine zweite Gewalt zur Seite gestellt hat - die Minengesellschaft. Nach dem leisen Zittern und unterirdischem Grollen könnten viele Einheimischen ihre Uhr stellen: Jeden Morgen detonieren in über tausend Meter Tiefe hundert Tonnen Sprengstoff, und sie graben sich immer tief in den Untergrund einer der reichsten Adern der Welt.
Die Pioniergeschichte Kirunas ist eine, die eigentlich besser in den Westen Amerikas passt. Oder zum Subtext der Romane von Nobelpreisträger Knut Hamsun, der dieses Jahr seinen 150er feiern würde. Darin tun Menschen Dinge, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in anderen Regionen Europas längst unmöglich gewesen sind: nämlich frische Schneisen in unverbrauchtem Gelände ziehen.
Erst 1903 wurde hier die Malmbanan-Linie eröffnet, jene Eisenbahnstrecke, die zum eisfreien Hafen ins norwegische Narvik hinüberführt. Wenn man heute den ewig langen Zügen nachschaut, die das geförderte Eisenerz zum Verladehafen transportieren, dann hat sich am grundlegenden Szenario nicht allzu viel verändert. Eine einzige Lebensader durchläuft die gleichförmige Landschaft. Ab September jedoch erlebt der skandinavische Norden die herbstliche Ruska - eine Art "Indian Summer" mit rostrot brennendem Boden.
Mit Rückendeckung am Berg
Kiruna selbst sollte aber in keiner Phase einer planlos wuchernden Wildweststadt ähneln. Führende Architekten und Städteplaner wurden herangezogen, wovon die Bewohner mittlerweile hundert Jahre lang profitieren. Die Lage am flachen Bergrücken des Haukivaara stellte erträglichere Temperaturen sicher, als sie das tiefer liegende, aber feuchte Marschland je hätte bieten können.
Vieles davon wird es in einigen Jahren nicht mehr geben. Das lässt sich aus der Marschroute entnehmen, die der Infrastruktur verordnet wurde: Ab 2010 wird die Eisenbahn einer neuen Strecke folgen, danach heißt es für die ersten Gebäude: Zeit zu gehen. Das Rathaus und der Bahnhof zählen dazu, historische Gebäude wie die Villa des ersten Bergbau-Präsidenten, Hjalmar Lundbohmsgarden. Der große Rest zieht Anfang der 20er-Jahre nach, dann werden die Bodenrisse Kirunas Zentrum erreicht haben.
Was zurückbleiben muss und welches Haus übersiedeln soll, wird gegenwärtig diskutiert. Unterschiedliche Techniken kommen dabei zum Einsatz: Das Rathaus soll nach Ikea-Manier in einzelne Teile zerlegt und dann wieder aufgebaut werden. Kirunas alte Holzkirche, ein überregionales Beispiel nordischer Architektur, übersiedelt lieber mithilfe einer rollbaren Plattform. Neue Straßen, ein radikal verändertes Kanalnetz, neu verlegte Stromleitungen - die Kosten, die die Bergbaugesellschaft zu tragen hat, sind enorm.
Probleme bereitet nur der älteste Weg der Gegend: Es ist die Migrationsroute samischer Rentierzüchter, die schon lange vor der Gründung Kirunas weit auseinander liegende Weidegründe miteinander verband. Jetzt rückt ihren Herden sogar eine bewegte Stadt auf den Pelz. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Printausgabe/22.8.2009)