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Vierzehn Meter hohe Wagen werden beim "Wagenfest" an dicken Seilen ins Rollen gebracht.

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Der Sonnentempel von Konarak gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe.

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Arme und Beine wachsen aus dem rötlichen Stein. Mit jedem Lichtstrahl gewinnen die verwitterten Köpfe und runden Hüften des alten Frieses an Leben. Mehr als tausend Jahre zieren sie nun schon den Mukteswar-Tempel. Doch das feinste Detail mit den vier akrobatisch ineinander verschlungenen Leibern muss trotzdem noch etwas warten. Denn vorher zeigt der Priester den Besuchern des Hindu-Tempels lieber sein Badezimmer. Voll Stolz, so wie Häuslbauer das zum Horror ihrer gelangweilten Neffen tun.

Algengrün und ein wenig unheimlich schimmert der Pool des Brahmanen. Seifenblasen glänzen auf schwarzen Steinstufen. Lendentücher trocknen auf ... nein, nicht der Wäschespinne, sondern auf Ganeshas steinernem Elefantengottkopf. Und Platz für die Kollegen der Kaste gibt es am Zehn-Meter-Becken auch: Ziemliche Muckis für Vegetarier haben die jungen Brahmanen, die sich hier mit den Holzstäbchen des Neem-Baumes nach guter Ayurveda-Sitte die Zähne putzen. Auch ihre von Zeit zu Zeit vom Beckenrand aus hingelegten Hechtsprünge sind nicht schlecht.

Aber deswegen schleift der junge Priester keinen hierher. Denn der wahre Kick ist die Lebenddekoration knapp unter der Wasserlinie. Vorsichtig strecken da Dutzende Wasserschlangen ihre Köpfe aus den Ritzen der Beckenwand, schlängeln ins grünliche Wasser hinein. Kraulen die Brahmanen vorbei, zucken die Schlangen zurück.

Freilichtmuseum mit Kuh

Überraschungen sind im indischen Orissa an der Tagesordnung. Wer in Bhubaneswar, der Hauptstadt des wenig besuchten Bundesstaats, aus dem Flieger klettert, sollte sich von Anfang an darauf einstellen. Schwarz und rotgelb tauchen antike Relikte neben großen Wasserbecken und mächtigen Feigenbäumen auf, und entspannt schlurfen Indiens heilige Kühe durch die Gassen. Bhubaneswar ist ein Freilichtmuseum der Sakralarchitektur, einzigartig auch für das an Tempeln nicht gerade arme Indien.

Bis aufs achte Jahrhundert lassen sich die frühesten Bauwerke zurückdatieren. Ebenso lange werden sie von alteingesessenen Familien betreut, mit Butterschmalz, Milch und dem Marihuana-Drink "Bhang" beschmiert - und eben auch als Brahmanen-Bad benutzt. Dass sich hier, im Osten des Landes, einst das Zentrum eines eigenen Königreichs befand, das vor zweieinhalbtausend Jahren sogar in Java, Bali und Sumatra mitmischte, merkt man nicht zuletzt am eigenständigen Baustil. Wie überdimensionierte, elegant gerundete Maiskolben ragen Orissas Tempel auf, am höchsten beim 40-Meter-Turm des Lingaraj Mandir.

Keine Frage: Bhubaneswar allein wäre eine Reise wert. Auch um einige Kilometer außerhalb der Stadt, bei Udayagiri und Khandagiri, Jahrtausende alte Höhlen buddhistischer Asketen zu besuchen - oder die Dschungelwasserfälle und Tiger des Similipal National Parks. Im noch schwieriger zugänglichen Südwesten können ethnologisch Interessierte Indiens spannendste "Tribal Zone" entdecken. Ein Viertel der Bevölkerung Orissas sind offiziell Adivasi, wie ethnische Minoritäten hier genannt werden.

Doch zumeist ist es ein touristischer Glücksgriff, wenn Reisende sich überhaupt in diese Ecke des Subkontinents verirren. Denn Orissa ist kein Coverstar Indiens, wofür auch das umliegende touristische Niemandsland sorgt. Die ländlichen Gegenden Andhra Pradeshs und Westbengalens und der "Cow Belt" der neu geschaffenen Bundesstaaten Jharkhand und Chhattisgarh schirmen Orissa im Süden, Norden und Westen ab. Doch wer sich in Kalkuttas Howrah Station in den Nachtzug legt, wacht am frühen Morgen in einer ländlich geprägten Gegend auf.

Pilgerreise nach Puri

Saftig grün leuchten die Reisfelder im ersten Tageslicht zwischen den vergitterten Fenstern der Indian Railways herein, eine stimmige Rhapsodie in Grün. Auf den künstlich angelegten Teichen schwimmen Seerosen, und die weißen, wolligen Blütenstände des dicht gewachsenen Elefantengrases schaukeln wie eine bewegte Wasserfläche sanft im Wind. Hell leuchtend und mit unbewegten Flügeln segeln Kraniche über dem alten Kernland Orissas, dem historischen Dreieck der drei Tempelstädte Bubaneshwar, Puri und Konarak. Eine fantastische Perspektive ist ihnen dabei sicher.

Das sagt Stunden später in Puri auch der Bibliothekar der Public Library: "Fantastische Perspektive garantiert!" Ein Hauch von Mahatma, Nehru und dem Indien der Sixties liegt über den vergilbten Büchern des Raums. Und vor allem: ein Flachdach, das den besten Blick auf Puris Jagannath-Tempel bietet, dessen Besuch Nicht-Hindus verboten ist. Zuckerlrosa ragen die konischen Türme in den Himmel, abgeschirmt von zwei Mauerringen und bunt bepinselten Wächterfiguren. Puris Jagannath-Tempel zählt zum exklusiven Club der vier Dhams - jenem "Grand Slam" der großen hinduistischen Pilgerreise. Vier Tempel markieren dabei die heiligen Eckpfeiler - Puris Jagannath-Tempel ist der östlichste davon. Wenn im Juni oder Juli das berühmte Wagenfest stattfindet und Tempelbedienstete die vierzehn Meter hohen Wagen mit dicken Seilen ins Rollen bringen, platzt die Stadt aus allen Nähten. Früher warfen sich Pilger vor die Holzräder, um unter den Augen der Götter zu sterben. Ein bisschen geändert hat sich das mittlerweile schon. Wer sich heute in Puri flach in den Sand legt, tut das in der Regel am Strand. Denn vor allem ist Puri das restliche Jahr über ein beliebter Badeort.

Vom Ringelspiel bis zum privaten "Lifeguard to rent" reicht Puris Beach-Palette. Wer Zuckerwatte und Zirkuspferdchen sucht, ist am zentralen Silver Beach bestens aufgehoben. Doch auch im weiter östlich gelegen Konarak kann man seine Flipflops in den Sand setzen. Ein Naturschutzgebiet erstreckt sich entlang des von kleineren Lagunen gesäumten Beach-Geheimtipps, in dichten Wolken flattern einem hier Schmetterlinge entgegen. Lang und einsam verliert sich der weiche Strand in der dunstigen Ferne, und die lindgrüne Ufervegetation bietet Nester für Baderatten.

Kein Wunder, dass auch die Götter hier ihren Wagen parken ließen. Riesige Steinräder hat der in der Unesco-Weltkulturerbe gelistete Sonnentempel von Konarak, im Prinzip ein riesiger steinerner Wagen. Im 13. Jahrhundert, als die heutige Struktur entstand, konnten die Götter aus ihrem steinernen Cabrio noch den Seeblick genießen, erst später zog sich das Meer ein Stückchen zurück. Die berühmten Räder - Symbol des ewigen Kreislaufs von Entstehen und Vergehen - sind Konaraks bekanntestes Detail. Zahllose weitere Finessen können die Guides auf den reich behauenen Wänden und Säulen nachreichen: Tempeltänzerinnen in gewagten Stöckelschuhen, eine afrikanische Giraffe und natürlich "Adults only"-Steinmetzereien: Kamasutra plus Kreuzweh versprechen die Liebesverrenkungen allemal. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Rondo/11.9.2009)