Foto: Peter Rigaud
Foto: Peter Rigaud

Matteo Thuns Illy-Espresso-Tassen in einer durchsichtigen Version.

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DER STANDARD: Sie gestalten unter unzähligem anderen auch für die Restaurantkette Vapiano. Wenn ich flapsig sagte, 'Vapinao ist wie Starbucks - nur mit Nudeln', was würden Sie mir entgegnen?

Matteo Thun: Voll daneben. Starbucks ist in einem ganz anderen Segment daheim. Es geht um eine sehr präzise positionierte, italienisch-mediterrane Idee von Frische, von Möglichkeiten des Kontaktes zum Koch, der individuell auf Wünsche eingeht. Vapiano ist eigentlich ein Mama-System. Niemand kann besser Spaghetti kochen als die Mama zu Hause. Deshalb wird es in Italien nie Vapiano geben.

DER STANDARD: In Österreich können die Mamas inzwischen aber auch Spaghetti kochen.

Thun: Ich hab hier (Vapiano-Filiale am Wiener Westbahnhof, Anm.) Spaghetti aglio olio gegessen. Sie haben genau so geschmeckt, als hätten sie meine Mutter oder Großmutter gekocht.

DER STANDARD: Ich stehe nicht gern fürs Essen an.

Thun: Ich auch nicht. Aber wenn diese Viertelstunde Anstehen menschliche Kontakte generiert und mein Individualisierungsprinzip in Sachen Speise zufriedenstellt, dann spar ich mir eventuell den langen Weg nach Hause.

DER STANDARD: Wie schlägt sich das im Design nieder?

Thun: Jedes Gastronomiekonzept startet mit dem exakten Verständnis dessen, was serviert wird. Wir realisieren sehr viele Hotel- und Gastronomiekonzepte. Der Ausgangspunkt für jeden Grundriss, für jede Küche, für jedes Geschäftsmodell startet mit dem Verständnis für die Aussage des Kochs.

DER STANDARD: Und was sagt der Koch hier?

Thun: Hier geht es um das Zelebrieren von Frische. Die kommt zum Beispiel in Form einer unbehandelten Tischoberfläche, eines unbehandelten Naturleders, eines naturbelassenen Holzbodens rüber. Das bedeutet Sensorialisierung. Wenn Sie die Speisen sensorialisieren, müssen Sie auch die Umgebung sensorialisieren. Das bedeutet in diesem Fall: Die Patina der Tischoberfläche ist so wie in einem alten Landgasthaus, wo die Tischplatte Jahr für Jahr schöner wird. Warum fühlt sich ein Städter in einer alten Bauernstube wohl?

DER STANDARD: Wegen der Mama?

Thun: Immer die Mama.

DER STANDARD: Stimmt es, dass Ihre Mutter die berühmten Südtiroler Thun-Engerln erfunden hat?

Thun: Ja, als ich geboren wurde.

DER STANDARD: Was sagen Sie zum Design der Engerln?

Thun: Ich würde nie etwas gegen meine Mutter sagen, zumal sie angeblich die Idee zum Thun-Engerl hatte, als ich in der Wiege lag. Ich war damals sehr dick und hatte einen Wuschelkopf.

DER STANDARD: Im Falle Ihrer Entwürfe fällt immer wieder der Begriff 'Zero Design'. Was ist das?

Thun: Schauen Sie sich mein Espressotässchen an (siehe Foto). Das ist genau 20 Jahre alt. Warum ist sie die meistkopierte Espressotasse? Weil sie so gezeichnet ist, wie ein kleines Kind eine Tasse zeichnen würde. Und sie funktioniert auch technisch besser als jede andere. Das hat mit dem technischen Querschnitt zu tun. Bei "Zero Design" geht es darum, das Verfallsdatum und die Autorenschaft eines Objektes zu eliminieren. Deswegen zero.

DER STANDARD: Sie sprachen auch einmal von der Wichtigkeit der erotischen Qualität eines Produkts. Worin liegt diese?

Thun: Es gibt im Alltag wenige Lippenkontakte. Entweder Sie küssen jemanden, oder Sie bringen zum Beispiel den Rand einer Tasse an ihre Lippen und haben einen sehr intimen Kontakt mit einem toten Material. Das kann erotisierend oder abstoßend sein. Mein Hobby ist von jeher Besteck. Es hat scheinbar keinen Freiheitsgrad in der Gestaltung, ist aber das intimste aller Instrumente, die ein Mensch verwendet.

DER STANDARD: Gut, aber wie schaut es mit der Erotik eines Bügeleisens aus?

Thun: Warum müssen manche Bügeleisen heutzutage aussehen wie ein Miniatur-Formel-1-Auto? Ich frage Sie.

DER STANDARD: Ich weiß es nicht. Damit es auffällt? Weil es mehr sein will als ein Bügeleisen?

Thun: Fahren Sie mit 280 km/h über ein Hemd? Würden Sie ein solches Formel-1-Bügeleisen kaufen?

DER STANDARD: Ich besitze kein Bügeleisen, ich bin sehr ungeschickt in Sachen bügeln.

Thun: Denken Sie an Ihre Mutter und Ihre Großmutter. Die haben doch sicher Hemden für Sie gebügelt. Wie war das?

DER STANDARD: Also wieder die Mama. Gut, ich denke an ein gemütliches Wohnzimmer. Katzenschnurren und so ...

Thun: Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Sie haben ein Bild der Entschleunigung und der Gemütlichkeit und Zufriedenheit vor sich. Es geht um einen Akt der Liebe. Die Mutter verbessert langsam und beschaulich mit einem heißen Stück Eisen das Hemd ihres Sohnes. Wie wollen Sie mit 280 km/h einem Hemd Liebe schenken? Mit ein bisschen Bosheit würde ich den Gestalter eines solchen Bügeleisens anzeigen.

DER STANDARD: Es gibt noch kein Gesetz gegen schlechtes Design.

Thun: Das ist kein schlechtes Design. Das ist ein kulturelles Missverständnis. Der Gestalter hat offensichtlich etwas Falsches gelernt. Der arme Teufel.

DER STANDARD: Der Designer und Kritiker Victor Papanek sagte, es gebe Berufsgruppen, die mehr Schaden anrichten als Designer, aber viele seien es nicht.

Thun: Dem Papanek kann ich mich nur voll und ganz anschließen. Seine Aussagen sind zeitlos gültig.

DER STANDARD: Apropos zeitlos: Gerade Ihre Architekturprojekte stehen schon sehr lange für Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein. Sie waren viel früher dran als andere. Ich denke an Ihr Fertighaussystem 'O Sole mio' aus dem Jahr 1990. Warum?

Thun: Vielleicht weil ich ein Kind der Berge bin und die Berufsethik als die Richtlinien meiner Entwurfsentscheidungen verstanden wissen wollte. Ich bin Sohn eines Unternehmers und fühle mich jedem Unternehmer verpflichtet, der mit einem Gestalter einen Mehrwert generieren will. Heute spricht man von nachhaltiger Architektur, von "triple zero". Die drei Nullen hab ich bereits damals mit "O Sole Mio" geschafft.

DER STANDARD: Sie haben sich vor allem auch im Hotel- und Spa-Bereich einen Namen gemacht. Was macht ein gutes Hotelzimmer aus?

Thun: Eine gute Dusche und eine gute Matratze.

DER STANDARD: Sie waren vor 30 Jahren Mitglied der revolutionären Memphis-Bewegung. Wie blicken Sie heute auf diese Zeit zurück?

Thun: Memphis war eine fantastische gymnastische Übung, eine Herausforderung, während der Nacht das zu testen, was man am Tag nicht machen konnte. Am Tag musste man schauen, dass man ein bisschen Geld verdiente, und in der Nacht haben wir versucht, uns an die Grenzen dessen heranzutasten, was das Material, die kulturelle und technische Machbarkeit eines Objekts zulässt. Es war eine schöne Zeit, weil sie aus einer totalen Frustration durch das Tagesgeschäft entstanden ist.

DER STANDARD: Stimmt es, dass Karl Lagerfeld damals Memphis vor dem Ruin rettete, weil er die ganze Kollektion aufkaufte?

Thun: Indirekt ja. Im ersten Jahr, als wir nicht wussten, ob diese verrückten Objekte überhaupt verkäuflich wären, hab ich einen Anruf bekommen. Es hieß, ein deutscher Gast sei im Showroom. Er wolle wissen, was hinter diesen Dingen stehe. Da bin ich hingeradelt, und da saß dieser sehr schnell sprechende Hamburger. Er fragte: 'Was soll ich kaufen?', 'Soll ich was kaufen?' Mit dem Mut der Verzweiflung hab ich zu Lagerfeld gesagt: "Kaufen Sie alles, es lohnt sich." Sonst hätten wir vielleicht nicht weitermachen können.

DER STANDARD: Warum gibt es heute keine Revolutionen à la Memphis mehr? Ist alles paletti?

Thun: Nein, aber die Pulverisierung der Kultur und der Sprachen hat dazu geführt, dass Revolutionen im digitalen Raum in Mikroclustern stattfinden. Das heißt, ich glaube, dass die Facebook-Generation, die sich übrigens in einer ausklingenden Phase befindet, eigene Instrumente hat, um Identität zu finden und zu spenden.

DER STANDARD: Was bedeutet das im Bezug auf Design?

Thun: Dass es keinen Mainstream mehr gibt. Pulverisierung der Segmente, Stile und Produzenten hat dazu geführt, dass es auch in der Presse nur mehr schwer nachvollziehbar ist, ob ein Mainstream existiert.

DER STANDARD: Sie sagten einmal, Sie hätten keine Freude, wenn Ihre Kinder Design studieren würden. Was würden Sie tun, wenn Sie heute 25 wären?

Thun: Wahrscheinlich würde ich mich wie ein kleiner Gauguin auf Bora Bora mit Ölfarben und 25 Geliebten umgeben.

DER STANDARD: Sie heißen eigentlich Matthäus Graf Thun-Hohenstein. Wann hat Sie das letzte Mal jemand auf diese Weise angesprochen?

Thun: Das passiert nie. Ich bin der Meinung, dass man so, wie man auf die Welt kommt, mit seinen Talenten umgehen sollte. Man sollte mit Titeln - und schon gar nicht mit akademischen - Missverständnisse aufkommen lassen. Ich mache mir diesbezüglich in meinem Leben zwei Vorwürfe.

DER STANDARD: Und zwar?

Thun: Der erste ist der Abschluss eines Studiums. Ich bin Doktor der Architektur summa cum laude. In Italien gibt es 110 Punkte. Ich hab 110 Punkte mit Auszeichnung. Dieser Abschluss war der schlimmste Tag meines Lebens. Ich habe in dem Moment verstanden, dass das System gegen mich arbeitet. In den sechs darauffolgenden Monaten musste ich erfahren, dass mich kein Architekturbüro in New York oder Los Angeles aufnehmen wollte. Dabei hätte ich sogar gratis gearbeitet.

DER STANDARD: Was wäre passiert, hätten Sie Ihr Studium nicht abgeschlossen?

Thun: Dann wäre ich viel früher bei Ettore Sottsass oder Rem Koolhaas, Jean Nouvel oder einem anderen Vorbild gelandet.

DER STANDARD: Ist das eine allgemeine Einstellung zum Hochschulstudium, oder beziehen Sie das nur auf Ihre Laufbahn?

Thun: Ich denke speziell an Ausbildungen im kreativen Bereich. Ich kann das nicht für die Medizin oder die Rechtswissenschaften sagen.

DER STANDARD: Und welchen Vorwurf machen Sie sich noch?

Thun: Dass ich zu lange Hochschulprofessor war. (Thun unterrichtete von 1983 bis 2000 an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, Anm.)

(Der Standard, rondo, 13.1.2012)