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Hurra, endlich Grünkohl! Und zwar nicht der zu Gatsch zerkochte.

Foto: APA/Wulf Pfeiffer

Unter all den vielen schönen Dingen, die Oldenburg mit Westafrika gemeinsam hat, ist das Faible für Grünkohl wohl das bemerkenswerteste. Grünkohl, gerne auch einmal Friesische Palme genannt, ist eine wunderbare Pflanze. Sie schmückt Beete, nährt Millionen und dient Gebietskörperschaften als Substrat zur Vermehrung touristischen Aufkommens. Das "Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten", welches seit 1956 begangen wird, gehört zu eben dieser Folklore. So hörte man dort schon Kanzlerin Angela zu ihrem Nicolas sagen: "Monsieur President, Bock auf Brassica oleracea var. sabellica ...?" - so weit zur knisternden Romantik, die Grünkohlkonsum auf deutschen Festen entfachen kann. Aber Grünkohl kann noch mehr. Er blüht entzückend.

Etwas heller als sein Verwandter, der Raps, erstrahlt im zweiten Jahr seines Bestehens das flauschige Blütenmeer über den sattgrünen Blättern. Jetzt heißt es geduldig warten. Warten, bis die Temperatur unter null Grad Celsius fällt. Weil dann wird traditionell Grünkohl geerntet, getötet und gegessen. Aber warum die Minusgrade?

Kristalline Spitzen

Es verdichten sich dahingehend die Gerüchte, dass niedrige Temperaturen Pflanzen zu Maßnahmen motivieren, die dem Erfrieren vorbeugen. Friert nämlich die Flüssigkeit in den und um die Zellen des Grünkohls, so bilden sich kleine Eiskristalle, für die es ein Leichtes ist, die Zellmembranen einerseits mit ihren kristallinen Spitzen zu durchbohren, und andererseits ihnen von außen das Wasser zu entziehen, auf dass diese ihren Zelldruck durch Austreten der Flüssigkeit verlieren und das lebendes System der Zelle langsam in ein totes System des Moders übergeht. Der Gärtner steht dann vor den braunen, spannkraftlosen Blättern und sieht in Gedanken den Komposthaufen wachsen. Und damit dies nicht geschieht, erhöht die Pflanze die Konzentration ihrer Zellflüssigkeiten, wodurch der Gefrierpunkt um einige Grad nach unten verschoben werden kann.

Dies braucht Zeit; Zeit, die als Abhärten unter Gärtnerinnen bekannt ist. Die Konzentration nimmt dadurch zu, dass die Pflanze unablässig Zucker in die Zellsäfte einlagert. Der Zucker drückt den Gefrierpunkt und schützt die Zellmembranen vor dem Austrocknen. 

Stadium zwischen tot und lebendig

Darüber hinaus schmeckt er gut, und deswegen warten die Grünkohlesser auf eisige Temperaturen, um ihrem traditionellen Schmaus nachzukommen. Das Leben ist aber nicht binär, auch nicht jenes der Pflanzen. Es gibt ein Stadium zwischen tot und lebendig, und launige Botaniker nennen es Erkältung: Da sämtliche chemische Prozesse, die eine Pflanze zum Aufrechterhalten und Wuchs ihres Daseins braucht, temperaturabhängig sind und darüber hinaus bei unterschiedlichen Temperaturen unterschiedlich optimal ablaufen, kann eine zu niedrige, aber auch zu hohe Temperatur dazu führen, dass das Zusammenspiel der lebensnotwendigen, chemischen Prozesse nicht mehr zur vollsten Zufriedenheit klappt - eine Disharmonierung des Stoffwechsels.

So kann eine Pflanze bei niedrigeren Temperaturen noch ganz gut wachsen, jedoch kommt die Produktion von Chlorophyll bei diesen Temperaturen nicht mehr mit, und es wachsen gelblich-bleiche Blattwerke. Dann spricht man von Verkühlung, dann ist Schluss mit abgestimmten Abläufen. Daher kann man das Temperaturoptimum des Wachstums und der Entwicklung von Pflanzen als den Bereich ansehen, in dem die Geschwindigkeit der verschiedenen Prozesse optimal harmoniert. Wenn diese Disharmonierung besseren Geschmack bedeutet, dann wird das von unseren deutschen Nachbarn kultiviert, als Tradition weitergegeben, und letztendlich landet der eisig-süße Grünkohl zu Gatsch zerkocht auf dem Teller, flankiert von Mettenden und Kartoffeln. Wer meint, dass wir Ösis da fein raus wären, soll einmal an unseren Kochsalat mit Erbsen denken. Eben. (Gregor Fauma/Der Standard/rondo/24/02/2012)