Wien - Identität und Sexualität im Spätkapitalismus fokussierte der Vortrag "Sex is dumb, boring hippie stuff" am 11. März im Rahmen der Reihe "Cafe Critique". Lars Quadfasel von der norddeutschen "Gruppe Ratio, Rausch, Revolution" skizzierte anhand der Linien von realen Geschlechterverhältnissen, Natur-Kultur-Dichotomien, sowie Bürgertum und Postkapitalismus die sogenannte Libertinage von Sexualität. Ihre Anfänge nahm sie in der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, durch die Begierde und Trieb einer Kategorisierung unterzogen wurde und gesund von krank, abnormal von normal unterscheidbar wurde.

 

Eine große Zäsur, vor allem für die Linke, stellte die sogenannte sexuelle Revolution dar, in der der Gesellschaft die Unterdrückung der menschlichen Triebhaftigkeit "ausgetrieben" werden sollte. "Inzwischen hat diese Aufgabe die Massenmedien übernommen", betonte Quadfasel mit Blick auf den Sexdiskurs in Talkshows, Musik, Filmen und Boulevardmagazinen.

Zwang zur Identität

Der Zwang zur Identität hätte ebenfalls das Bürgertum beschert, referierte Quadfasel weiter. Es forderte Identitäten, die verbindliche Verträge aushandelten, die klar umrissen waren, die eindeutige, kategorisierbare und letztlich kapitalistisch verwertbare Bedürfnisse hervorbrachten.

Ein wichtiger Punkt zur Identitätsfindung des bürgerlichen Subjekts sei bis heute die Konstruktion von Geschlechterrollen und -hierarchien, die sich in ihrer Entwicklung vor allem an den Trennlinien Kultur-Natur festmachen. Wobei Quadfasel einwarf, dass die Zuordnung der Frau zum Naturhaften, Triebhaften, wie es im Mittelalter vorherrschend war, in der Aufklärung um die Frage bereichert wurde, ob die Frau überhaupt lustfähig sei. Des weiteren wurde dem weiblichen Geschlecht im späteren Bürgertum auch kulturelle Leistungen zugestanden, wie zum Beispiel Tugendhaftigkeit oder auch Schönheit. Als Beispiel brachte Quadfasel einen Roman von Maupassant, in der der Protagonist seine Partnerin schwängerte, um sich vom Neid ihrer Schönheit zu befreien.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nur logisch, dass durch die von Frauenbewegung und Kapitalismus vorangetriebene Auflösung der klassischen Geschlechterrollen und der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des klassischen Arbeitsbegriffes immer größere Störungen im Bildungsprozess des bürgerlichen (männlichen) Subjektes auftraten.

Manisches Ich

Quadfasel folgerte daraus für die Überreste des Bürgers, dass er die Frage nach dem "Wer bin ich?" umso fanatischer stellt, je weniger sie eindeutig und fortdauernd beantwortet werden kann. Absurd sei, dass die Aufsplitterung und Anerkennung vieler Identitäten nicht zwangsläufig zu mehr individueller Freiheit führt. So würden aktuelle Studien zeigen, dass männliche Jugendliche in der Pubertät viel weniger oft Geschlechtergrenzen überschreiten, weil sie Angst vor der Zuordnung als Homosexueller hätten. In den 50er und 60er Jahren wäre gemeinsames Masturbieren oder der direkte Vergleiche der Geschlechtsorgane nicht als Indiz für Homosexualität gewertet worden, und hätte bei Jugendlichen keinen Zweifel an der eigenen Heterosexualität hinterlassen.

Die eigene sexuelle Identität oder die Organisierung der Begierden sei ein vorrangiges Ziel in einer Gesellschaft geworden, in der ansonsten Selbstverwertung, Beherrschung, Unterwerfung und Anpassung erwartet wird. Liebe und Begehren würden auf eine neue Art mystifiziert und essentialisiert werden und als einzige Garanten der Subjektivität übrigbleiben.

Macht und Körper

Wie Körper(fülle) Träger von Macht sein kann, veranschaulichte Quadfasel anhand der körperlichen Veränderungen des deutschen Außenministers Joschka Fischer. In den 80er Jahren als legerer Alt-68er mit Kind im Arm bekannt, nahm er während der Kohl-Ära an Gewicht und Sattheit zu, um schließlich Mitte der 90er Jahre das neue Machtmodell der jung-dynamischen neoliberalen Ich-Aktie aufzugreifen und der durchtrainierte, verbissene Außenminister zu werden, der hart zu sich und anderen sein kann und will.

Sexual Correctness

Als Folge der Anerkennung vieler Identitäten und der Veränderung der Geschlechterrollen konstatiert der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt einen Wandel von der Sexual- zur Verhandlungsmoral in seinem Buch "Das Verschwinden der Sexualmoral". Quadfasel veranschaulichte diese "sexual correctness" mit dem Beispiel des US-College Antioch, an dem von StudentInnen eine schriftlich fixierte Ordnung ausgearbeitet wurde, gemäss der jede sexuelle Handlung, vom Kuss bis zum Geschlechtsverkehr, erst erfragt und bestätigt werden muss, bevor es zur jeweiligen Handlung kommen kann. In dieser Konstellation ist sexuell alles erlaubt und möglich, solange nur alle PartnerInnen einverstanden sind. Gleichzeitig wird die klassische Verquickung von Macht und Ungleichheit beim Sex ausgeschlossen, was vor allem für Feministinnen berechtigterweise ein großes Anliegen war und immer noch ist.

Sex is dumb, boring hippie stuff

Was bleibt also übrig von der großen Party Sex? Johnny Rotten nimmt es in der Semi-Doku "Sid and Nancy" hart: "Sex is dumb, boring hippie stuff". Exzess, Rausch und Revolution kann auch durch andere Kanäle ins Leben gelassen werden, und sei es in Form von kulturindustrieller Verwurstung. Quadfasel schloss mit der These, dass Begehren, verstanden als zugelassene Abhängigkeit und Auskostung von Fremdheit, es ermögliche, das utopische Versprechen von Sex als Transformationskraft wahr zu machen. "Im besten Fall hebt mensch den anderen in den Himmel und mit ihr die ganze Menschheit". (freu)