Der Sänger Elvis Presley, geboren auf der falschen Seite des Bahndamms in Tupelo / Mississippi, mag der Achill des Rock'n'Roll gewesen sein, sein Homer jedoch hieß Chuck Berry: In dem archetypischen Gitarrensong Johnny B. Goode beschreibt der countrygeschulte Poet des Alltags, wie ein Hinterwäldler namens Johnny sich mit seiner Gitarre neben einem Gleis niederlässt und zum Rhythmus der vorbeidonnernden Züge in die Saiten hämmert: Thunder and Lightning, Mensch und Maschine, Leben nach der Schlagzahl des fordistischen Zeitalters mit seinen industriellen Polyrhythmen: Go Johnny go! Die kleine Vignette aus der heroischen Epoche des Jugendkulturaufbruchs fasst das Wesen des Rock'n'Roll in einer Nussschale. Er war, strukturell gesehen, nichts fundamental Neues: Wynonie Harris, Ike Turner und Dutzende andere hatten schon Jahre zuvor Musik gemacht, die ziemlich rockig klang. Aber es fehlte noch ein Zündfunke, um den schwarzen Rhythm and Blues auf dem Massenmarkt explodieren zu lassen: Man brauchte weiße Gesichter, um die Musik aus den engen Grenzen des Race Music-Marktes auf die Fernsehbildschirme des kaukasischen Mehrheitspublikums zuexportieren, und man musste jenen göttlichen Lärm entfesseln, der Teenager berauschte und Erwachsene anwiderte. Es ging, um es mit dem Pop-Theoretiker Rudi Thiessen zu sagen, "um den im richtigen Moment falsch gespielten Ton."

Im Zentrum der Rock'n'Roll-Urszene stand die elektrische Gitarre: Das Instrument wurde schon seit den dreißiger Jahren in Massenfertigung hergestellt. Doch erst seit Leo Fender um 1950 mit seinen kurvigen, flach gedrückten Modellen Telecaster und Stratocaster ein Design-Äquivalent zum "atomic age of cool" der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft schuf, wurde die E-Gitarre hip. Es vergingen aber noch Jahre, ehe jugendliche Bilderstürmer ihr Lärm-Potenzial erkannten. In der Prä-Rock'n'Roll-Epoche dominierten Musiker wie der Gitarrenpionier Les Paul, der zwar ein Avantgardist der intrikat übereinander geschichteten Gitarrenspuren war, ansonsten aber die Werte der "moral majority" verkörperte: Promotion-Fotos aus den späten vierziger Jahren, zeigen Les Paul und seine Frau Mary Ford, mit der er im Duo auftrat, in hellen, blitzsauberen Wohnzimmern, die nach den ästhetischen Leitlinien von Harper's Bazaar eingerichtet sind. Hier sind nicht einmal Spurenelemente jugendlicher Rebellion zu bemerken. Paul / Ford verliehen dem Lebensdesign gereifter Verantwortungsträger Körper und Klang. Ihr musikalisches Repertoire ging über Standardmaterial wie How High the Moon oder Put a Ring on My Finger nicht hinaus. Und Pauls technische Spielereien waren selbstreferentielle Akrobatenstücke, die nicht auf Überschreitung zielten, sondern auf Affirmation eines fragwürdigen Fortschrittsbegriffes.

Doch es gab zur selben Zeit noch eine andere Elektrizität, ein bösartiges Knistern und Klangflackern, das die unreinen, gestörten, verzerrten Signale bevorzugte und in den Verbotszonen der weißen Mehrheitsgesellschaft zu hören war: in den dreckigen "juke joints" von Mississippi und Arkansas, in den Rotlichtkneipen der Beale Street in Memphis und an Chicagos Southside. Es war die Musik von Männern, die auf den Baumwollfeldern im Delta aufgewachsen waren - von Muddy Waters, T-Bone Walker, Elmore James, John Lee Hooker. Sie spielten am Wochenende gegen das Desinteresse und den Lärm von Nutten, Drogendealern und harten Jungs von den Plantagen an. Und sie nutzten jede Möglichkeit, um ihren Sound lauter, durchdringender und erotischer zu machen. Als Verstärker und elektrische Gitarren zur Verfügung standen, gehörten sie zu den Ersten, die sich einstöpselten. Doch gestandene schwarze Männer aus dem Delta - Muddy Waters war 1955 bereits 40 Jahre alt - hatten bei den Teenagern, die in der gedämpften Country-, Bluegrass- und Easy Listening-Kultur der bleiernen Eisenhower-Zeit nach dem Neuen lechzten, keine Chance.

Rock'n'Roll wurde in dem Moment zur Kultur der Massen, als er sich mit den spastischen Körperzuckungen weißer Nachwuchssänger wie Gene Vincent oder Eddie Cochrane verband. Als die Unhygiene verzerrter Klangsignale aus Bassman-Verstärkern die sauber getrimmten Gärten der Vorstadtsiedlungen kontaminierte. Als das protestantische Arbeitsethos von Leo Fender mit dem Rausch und den heidnischen Beschwörungsformeln von Muddy Waters' elektrischer Band kollidierte, und im Funkenflug ein Kind namens Elvis gezeugt wurde. Jetzt war die Zeit reif, und Johnny B. Goode konnte aus den Kulissen treten: "Many people comin from miles around. Just to hear you play your music till the sun goes down." (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 3./4.4.2004)