Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Archiv

Von der befreienden Wirkung des Schimpfens - Eine Polemik von Alfred Goubran

Ein arabischer Dichter versetzte das Paradies in den Himmel. Auch dort gab es einen Baum, dessen Früchte Adam und Eva zu essen verboten war. Als sie es eines Tages doch taten, verspürten sie kurz darauf ein noch nie gekanntes Bauchgrimmen, ein Zwicken und Zwacken in den Eingeweiden, welches ihnen sosehr zusetzte, dass sie in ihrer Not nach dem Engel des Herrn riefen. Der sah sofort was geschehen war und sagte zu ihnen: "Es gibt nur ein Mittel, das euch von euren Schmerzen kurieren kann. Seht ihr diesen Stern?" Er deutete etwa in die Mitte des Himmels. "In seiner Nähe ist ein Planet. Dorthin müssen wir unverzüglich reisen." Sie willigten ein, und er nahm sie beide mit sich fort und flog mit ihnen zu jenem Planeten, wo sie sich Erleichterung verschufen, danach brachte er sie wieder in das Paradies zurück. Jener Planet aber war die Erde, der Abtritt des Universums, und aus dem Kot der beiden Paradiesbewohner entstanden die ersten Menschen.

Kant überliefert uns diese Geschichte vom Hörensagen, und wir erzählen sie weiter, vom Hörensagen, weil niemand von uns seinen Kant zur Hand hat – wozu auch, nur um diese Geschichte zu erzählen? – Weiter gibt es hier zu Kant nichts zu sagen. "Wer ihn gekannt hat, mochte ihn nicht, wer ihn nicht gekannt hat, schätzt ihn sehr", wie A. L. Trimmel zu sagen pflegt. Trimmel selbst schätzte den Dichter Berz, der, als 22-Jähriger eine 400-seitige literarische Beschreibung des Tampons im Konjunktiv verfasst hatte. Trimmel kannte das Werk nur in Auszügen, da es unveröffentlicht war. Er stand mit dem Autor in brieflichen Kontakt.

"Das Tampon", pflegte Trimmel zu sagen, "liegt bei Berz in der Schublade wie ein Fötus in Spiritus und erwartet den Tod des Dichters, um endlich geboren zu werden." Ausscheidungen, um auf Kant zurückzukommen, waren Trimmels Domäne. "Das Tampon", soviel war sicher, würde in seinem Werk, nur eine Fußnote einnehmen. "Die Gesellschaft", sagt Trimmel, "definiert sich durch den Müll, den sie verursacht. Sie definiert sich durch ihr Verhältnis zum Müll, und es gab keine Gesellschaft bisher, die ein so problematisches Verhältnis zum Müll hatte, wie die unsere.

Nur durch den Müll ist der Einzelne in die Zange zu kriegen, indem man ihn zuerst zwingt, ihn zu verursachen, und ihn dann dafür verantwortlich macht, dass es diesen Müll gibt. Als wäre die Industrie dazu gezwungen, vom Einzelnen dazu gezwungen, diesen Müll für den Einzelnen zu verursachen. Als hätte sie ein Mandat, wie es in Demokratien heißt, diesen Müll dem Einzelnen bei jeder Gelegenheit über den Kopf zu stülpen wie einen Plastiksack. Die Müllhervorbringung hat sich deshalb so dynamisiert, weil immer mehr Menschen immer weniger hervorbringen von dem sie leben könnten. Für diese Menschen, die nichts hervorbringen, wurde das Geld erfunden, damit sie sich über diesen Umweg das existenziell Notwendige leisten und Herrschaft über jene, die etwas hervorbringen, ausüben können."

Natürlich ist das, so Trimmel, ein Analog für die Unfruchtbarkeit, wie jede Großstadt ein Analog für die Wüste sei. Das Müllproblem sei deshalb im Wesentlich ein Beschaffungsproblem, gekoppelt an ein Hervorbringungsproblem und die eigentliche zentrale Machtfrage unserer Zeit. Die Hauptbeschäftigung der Müllmächtigen bestehe nicht in der Entsorgung des Mülls, sondern in dessen Verbergung. Allerorts werde ja mit dem Müll gedroht, aber nirgends sei er zu sehen. Der Müll, ja die Müllkatastrophe, sei ständig gegenwärtig, aber nie sichtbar. Damit werde das Bild einer ständigen Verstopfung suggeriert, die für den einzelnen wirklich unerträglich ist.

Wahrscheinlich wäre es eine Erleichterung, sagt Trimmel, den Dreck einmal für ein paar Tage liegen zu lassen, als volkshygienische Maßnahme. Unser Verhältnis zum Müll sei ein Beseitigungsproblem; es gehe nicht darum, ihn zu vernichten, sondern ihn uns aus den Augen zu schaffen. "Das ist wie mit der Luftverschmutzung, die sieht man auch nicht." Kein Wunder also, sagt Trimmel, dass uns dann der Dreck aus dem Radio und den Fernsehgeräten in Augen und Ohren rinnt, ohne dass wir ihn erkennen. Einmal bis zu den Füßen in Jauche gewandelt und niemand würde sich das mehr bieten lassen. Sofort würde Dreck als Dreck erkannt werden. Unsere Gesellschaft, der Gesellschaftskörper, leide unaufhörlich an Verdauungsproblemen. Andererseits sei die Beschäftigung mit den eigenen Ausscheidungen und Absonderungen ein nicht unwesentliches Kulturgut dieser Gesellschaft, womit wir wieder bei Kant wären, sagt Trimmel, der ja das subjektive Handeln zur gesetzgebenden Maxime erklärt haben wollte und damit, auf die Ausscheidungen bezogen, Freud voraussetzt.

"Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns allgemeines Gesetz werden kann." Da dies aber vom Einzelnen anscheinend nicht geleistet werden kann, erlässt nun der Staat Gesetze, die dem Einzelnen zunehmend in seinem Handeln auf ein Idealbild zurechtstutzen sollen, indem er ihm vorschreibt, wie er seinen Müll zu entsorgen hat, welches Auto er zu fahren, welche Waschmaschine er zu kaufen hat. Das wird belohnt, wie im Kindergarten gibt es Punkte dafür. Es gibt Punkte dafür, ob einer dies oder das macht. In Deutschland gibt es sogar ein Mitteilungsheft für alle Kfz-Besitzer. Es gibt den Punkteführerschein. Es gibt den grünen Punkt. Den gelben, den roten Punkt. Schnell wird aus einem Punkt ein Stern. Für die anderen gibt es vorläufig nur die Vignette. Man könnte sagen, der Gesellschaftskörper leide an Masern, lustig, lustig, und jeder Gegenstand ist mit Zertifikaten und Aufklebern übersät.

Alle benutzbaren Objekte leiden an Ausschlag. Wo etwas rosten könnte, wird es binnen Jahresfrist bemerkt. Die Objektfürsorge ist hinreißend. Wer sich selbst als Gefahr empfindet oder so gesehen werden will, lässt sich tätowieren. Das ist schick. Kant für Hausfrauen: Räum deinen Geschirrspüler stets so ein, dass dein Einräumen des Geschirrspülers Gesetz für das Einräumen von Geschirrspülern sein könnte. Die Antithese wäre: Handle so, dass keiner dich nachahmen kann. Jeder ist unverwechselbar und einzig geboren – volkstümlich gesprochen sind das die Prämissen für den Individualitätskult und den Geniewahn. Aber natürlich wird jeder Kantianer einwenden, dass Kants Imperativ auf die Moral bezogen sei und nicht auf das alltägliche Handeln, womit nichts von dem Gesagten wahr wäre. Aber es kann geglaubt werden." So spricht Trimmel. Und keiner von uns wird recht klug daraus. Die Geschichte vom Paradies aber haben wir uns gemerkt.

G

Unsere Betroffenheit über die Müllmenschen in Kairo ist praktisch. Sie führt uns in ferne Länder. Wir sehen uns die Pyramiden an und werden ganz blass vor soviel hoher untergegangener Kultur.

Solcher Manöver ungeachtet bleibt das Müllproblem doch ein reales. Doch was kümmert uns die Realität? – Wenn es Tagesthema ist, ob Bundespräsidentschaftskandidaten Mannerschnitten verteilen dürfen oder nicht, kann es nicht so wichtig sein. Und statt beide deswegen sofort in den Bundespräsidentschaftskandidatenkindergarten ihrer Parteien zurückzuschicken – etwa in das Parlament, wo sie an einem Tag so oft aufstehen und sich hinsetzen, um Gesetze zu beschließen, dass man es für Kniebeugen halten könnte – wird man sie dennoch wählen und damit das Müllproblem so wenig verringern, wie wenn man diese Zeitung liest oder ein Buch eines Staatspreisesammlers und Stipendienjägers oder einen Text der kolportierten Philosophenmittagstischesser beim Bundeskanzler . . . "Muss das jetzt sein", sagt Trimmel, "dieses Schimpfen. Muss das jetzt sein?"
"Ja", sage ich.
"Aber es ist ungerecht, pauschal und . . ."
"Ja. Es ist nicht einmal ästhetisch, reine Hygiene. Hat nicht Kafka einmal geschrieben, "ein Buch muss wie eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns"? Und? Hat man es aufgeschlagen, schwimmen dort die Bundepräsidentschaftskandidaten, Kant und Liessmann, Mannerschnitten, die Kronen-Zeitung und wer weiß Gott noch alles herum – das ist wie eine einzige Ölpest, die jeden eigenen Gedanken überzieht. Das so genannte Establishment ist wie eine einzige Ölpest, die, um zurückgedrängt zu werden, beschimpft werden muss. Wenn wir es analysieren oder kritisieren, dringt uns das Öl schon mit jedem Atemzug in die Lungen und verschleimt uns die Atemwege. Das kann man nur noch ausschleimen. Da schimpft man eben, und die verklebten Flügel zucken ein wenig hilflos und . . ."
"Es passiert gar nichts."
"Eben."
"Reine Zeitverschwendung."
"Schimpfen ist gesund, sage ich!", jetzt klar im Argumentationsnotstand. Und ich schreibe: "Schimpfen ist gesund. Schimpfen Sie ein Mal am Tag mit Ihrer Mülltonne, wie sie mit Ihren Topfpflanzen reden, und Sie werden sehen, wie sich der Müll unter Ihren Worten duckt, zusammenzieht, und sich ganz klein zu machen versucht. Dann brauchen Sie keine Mehrwegflaschen mehr zu falten. Machen Sie die Tür oder das Fenster auf und schreien Sie hinaus auf die Straße: ,Kant ist Scheiße, der Präsident ein Hühnerdreck!' Das ist nicht sehr fein, aber es hilft, kolportiertermasen, gegen Grippe und Blähungen."
"Wenn du das schreibst . . .", sagt Trimmel.
"Dann . . ."
" . . . dann kannst du dein Reisestipendium vergessen."
Eben. Ich breche das Müllhalteabkommen.
Und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.4.2004)