Mit Franz Schuh und Uwe Timm sprachen Klaus Zeyringer und Stefan Gmünder über Moral, die Bedeutung der Erinnerung beim Schreiben und literarisches Spiel.


Uwe Timm hat 1988 gesagt, es sei eine wichtige Aufgabe von Literatur, sich kritisch mit der vorgefundenen Wirklichkeit auseinander zu setzen, damit man nicht zum "Stukkateur des bürgerlichen Salons" werde.

Franz Schuhs Roman "Der Stadtrat" aus dem Jahr 1995 löse, wie ein Kritiker meinte, alle Bestimmungen der zweiten Republik in reflexive Stimmung auf. Wie stehen Sie heute zu diesen Sätzen, wie sehen Sie die Beziehungen zwischen Literatur und Realität?

Timm: Ganz einfach, man wacht morgens auf, stößt sich den Kopf an und sagt "aua". Man hat also das Subjekt, die harte Wirklichkeit - und man hat den Anfang von Sprache. Was sich daraus entwickelt, die einzelnen Interpretationsmuster, die Einflussnahme von Bewusstsein und Sprache auf Wirklichkeit oder von Wirklichkeit auf Sprache, das ist Gegenstand einer jahrhundertelangen Theoriebildung. Ich habe Philosophie studiert und im Hauptfach promoviert und schlug mich lange mit dieser Frage herum. Ich kann von mir sagen: Wenn ich schreibe, dann weiß ich, da ärgert mich was, meistens hat es etwas mit meiner Kindheit zu tun, da ist sehr viel Empörung und auch Nachdenklichkeit dabei.

Schuh: Ich würde mir umgekehrt leichter tun, die Geschichte von Bewusstsein und Wirklichkeit hier habilitationsmäßig zu skizzieren, als die Frage nach dem "Warum" des Schreibens zu beantworten. Ich interessiert mich für Begriffe, Begriffe faszinieren mich mehr als Anschauungen. Das ist eine fragwürdige Parteinahme, und wenn Handke sagt, falls ein Begriff erscheine, dann schieße er ihn ab, so würde ich sagen, wenn irgendwo ein Begriff nicht erscheint, dann drängt er sich mir auf. Der Grund, warum ich den Stadtrat schrieb, ist immer noch aufrecht. Es geht um das Erstaunen über so genannte "gesellschaftliche Verhältnisse", darüber, warum das Zusammenspiel zwischen Menschen auf einer großen und einer kleinen Ebene funktioniert, und zugleich nicht funktioniert, nicht "klappt".

Timm: Man merkt hier gleich die Differenz. Für mich ist Anschauung etwas ganz Wichtiges. Für mich ist es entscheidend, aus dieser Anschauung etwas Kognitives zu bilden. Der Ursprung von dem, was ich Verletzung, Schmerz oder Bruch nennen würde, ist zumindest für mein Schreiben sehr wichtig. Schreiben ist für mich durch einen sehr autoritären Vater und eine katastrophale Situation in der Schule eine Form von Notwehr gewesen. Es war etwas ganz Empörendes, mit diesen alten Nazis konfrontiert zu werden, die in der Schule auch noch die Macht hatten.

Schuh: Ich habe das Problem mit den Nazis nicht. Mein Vater war Kommunist, ich habe Nationalsozialisten schon früh zutiefst verachten können. Ich hatte damit keinerlei verwandtschaftliche Probleme. Ich habe den Autoritarismus dieser rechtsorientierten Menschen, den ich in meiner Schulzeit ebenfalls noch kennen gelernt habe, mit einer kalten Verachtung überflügelt.

Timm: Ich wurde stark beeinflusst durch diesen ganzen nationalen Quark, den ich auch noch vermittelt bekommen habe. Ich musste mich davon erst langsam und recht kompliziert emanzipieren. Für mich als Fünfjähriger war es ein ungeheurer Schnitt, dass diese ganzen Autoritäten durch die Kapitulation infrage gestellt wurden. Die Vätergeneration, die ja auch die Tätergeneration war, wurde von heute auf morgen in ihrer Autorität gebrochen, und zwar von außen gebrochen, es war ja nicht ein irgendwie gearteter Emanzipationsprozess von innen. Das ist sehr bestimmend für mich und meine Literatur, das Movens meines Schreibens ist die Emotion.

Die Begriffe sind ja sehr schön, man kann sich in einem Oberseminar darüber unterhalten und fragen, wie bildet sich das im Hegelschen Sinn aus, aber was das Bewegende ist, auch im Denken und auch dann, wenn man versucht, Systeme zu entwickeln, sind Emotionen. Und die sind sehr zählebig. Was fehlt, ist so etwas wie eine in der Tradition der Aufklärung stehende Entwicklung des Verstehens von Gefühlen. Und genau das ist die Arbeit einer emanzipativen Literatur, dem nachzugehen und zu untersuchen, wie Gefühle, Emotionen mit Sprache, mit Bewusstsein zusammenhängen, wie das eine das andere entfaltet oder auch infrage stellt.

Schuh: Was den Schriftsteller meiner Meinung nach auszeichnet, ist genau das, was Sie gesagt haben - ich will es nur in einem Bereich einschränken.

Der Schriftsteller, der einer ist, wird niemals all die Forschungen über die Entwicklung der Gefühle, die zum Beispiel die Wissenschaft bringt, als die Seinen akzeptieren. Ich denke an Klaus Theweleit, der versucht, auch in abstrakter Sprache zu zeigen, wie diese Balance oder diese Disharmonien von Sprache, gesellschaftlichem Verhalten und Bewusstsein sich, und sei es durch Gewalt, einspielen. Ein Schriftsteller, eine Schriftstellerin wird das, was die anderen darüber denken, niemals als seines, als ihres akzeptieren, sondern er oder sie wird diese Geschichte immer neu erfinden. Und das macht die Literatur nicht selten "langweilig", weil diese Individualisierung genereller Einsichten, die für den literarischen Text notwendig ist, zur Wiederholung neigt, für die Handke sich ausgesprochen hat, weil in diesem Wiederholen abgesehen vom Literarischen auch etwas genuin Menschliches liegt.

Timm: Ein gutes Beispiel scheint mir in diesem Zusammenhang Thomas Brussigs Helden wie wir zu sein. Ich finde, dieser Roman ist eine ganz erstaunlich gelungene Beschreibung dessen, was in der DDR als Emotion und Mentalität tragend war und dazu geführt hat, dass dieses Modell des Sozialismus scheiterte. Obwohl ich die Verhältnisse zu kennen glaubte, ist es für mich ganz neu - also mehr als nur Wiederholung. Sie rekurrieren auf Handke, aber Handke interessiert mich nicht besonders.

Schuh: Ich zitiere ja nicht den Fetisch "Handke", sondern konkret einen seiner Gedanken. Wenn er zum Beispiel den Begriff der Wiederholung metaphysisch auflädt, ist das im Prinzip etwas, was Sie in Ihren Texten auch machen. Und was Sie über Brussig sagten, empfinde ich ebenso. Ich habe mich immer für die DDR interessiert und ich bin auch öfters dort gewesen.

Mich hat an der DDR als Ausländer, der niemals Revolutionstourist war, sondern jemand, der an einer Hochschule versucht hat zu sehen, was man dort lehrt, mich hat also an der DDR gefesselt, dass man durch die Alltäglichkeit der Umstände innerhalb kürzester Zeit die Routinen eines politischen Systems selbstverständlich hinnimmt, auch wenn man mit dem System nicht einverstanden ist. Das politisierende Pathos stellt sich im Alltag nicht wirklich ein. Im Alltag leben heißt, in gewisser Weise immer schuldig sein. Wenn jemand nach diesen Schuldfragen gierig ist, kann er sich diese Gier sehr leicht erfüllen.

Ein österreichischer Theoretiker, Egon Matzner, leider viel zu früh verstorben, hat einen Teil der österreichischen Literatur mit dem harten Wort des "historischen Moralismus" kritisiert. Der historische Moralist entwickelt für eine Situation, die vorüber ist, eine Moral. Das ist ein Problem von Erinnerungsarbeit, weil an der Erinnerung zu arbeiten heißt, sich etwas zu vergegenwärtigen. Aber das Vergegenwärtigte ist nicht die Gegenwart. Lassen Sie mich als Freund des Kriminalromans behaupten, nichts wäre dümmer, als die verfilmte Geschichte von Mankell mit der Rückkehr des Tanzlehrers: Die wirkliche Weltgefahr ginge keineswegs von den jungen, glatzköpfigen Rechtsradikalen aus, sondern von den gediegenen alten Nazis, die über Internet die Möglichkeit haben, sich unendlich zu verbreiten.

Das ist ein historischer Moralismus, der in vollkommener, geradezu beängstigender Art und Weise zeigt, wie die Literatur sich in gemachte Prokrustesbetten legt, indem sie frühere Gefahren als gegenwärtige beschwört und auf merkwürdige Weise in ihrer Erinnerungsarbeit den Horror des Augenblicks übersieht. Diesen Horror der Gegenwart aufzuspüren, das ist etwas, das sich wirklich lohnt.

Timm: Literatur versucht, das Delirium der Inadäquanz von Wirklichkeit und Sprache, wie es Roland Barthes nennt, ins Bewusstsein zu heben. Barthes macht das, was ich wunderbar finde, mit einem Hinweis auf das Spiel. Literatur hat etwas mit Spiel zu tun. Du, Franz, bringst ja dieses Spiel mit deinen wunderbaren Essays gerade in Gang. Dieses Spiel gehört wesentlich dazu und bedeutet gleichzeitig Lust, Lust beim Schreiben. Das heißt nicht, dass ich manchmal nicht wie auf Erbsen rumlaufe, das gehört doch zusammen. Sprache hat etwas Sinnliches, sie ist zugleich in den Sinnen und dehnt sich in Bereiche aus, wo auch nach Sinn gefragt werden kann. Ohne jetzt katholisch zu sein, ich nehme an, wir sind beide Atheisten.

Schuh: Ich bin aber ein religionsphilosophisch interessierter Atheist. Ich muss sagen, das klang mir alles sehr österreichisch.

Timm: Ich habe eine österreichische Mutter.

Schuh: Das erklärt alles. Harald Schmidt - man glaubt es nicht - hat böhmische Vorfahren. Es gibt auch die Möglichkeit, und das haben einige Künstler sehr gut vorgezeigt, die Sprache hin und wieder zurückzuführen auf das "Aua" oder auf das Ächzen. Das war für mich die Größe von Jandl, er führte mir vor Augen und Ohren, dass die Sprache und die Sache auseinander klaffen. Daraus ergibt sich dann ein Spiel und die Frage bleibt, wie "selbstreferenziell" das Spiel wird. Da gibt es große Unterschiede in den literarischen Traditionen. Das erinnert mich an einen anderen französischen Autor, nämlich Raymond Queneau, bei ihm ist das Spiel auf eine ernste Weise mit einer spöttischen Relativierung von Literatur verbunden.

Die Literatur muss immer aus der Literatur heraustreten, aus diesem merkwürdigen Ernst - und zwar aus ernsthaften Gründen. Aus der "Antiquiertheit" des Ernstes", wie es Günther Anders nannte, herauszutreten, ist eine Kunst, eine wichtige, weil die Rückbindung an die ernsten Menschheitsthemen die Literatur sehr schwergewichtig und möglicherweise immobil macht und sie um das bringt, was sie könnte.

Timm: Das, was ich mit Ernst umschreibe, ist vielleicht tatsächlich ein bisschen antiquiert. In einer Zeit, wo sich alles in "fun", in Spaß auflöst, wo Ernsthaftigkeit als "uncool" bezeichnet wird, kann es plötzlich einen großen Wert haben, auf diesen Ernst zu insistieren.

Welche Beziehungen bestehen zwischen Ästhetik und Moral?

Schuh: Es ist ja möglich, den Verdacht zu haben, dass die so genannte Spaßgesellschaft nichts anderes ist als eine Funktion eines antiquierten Ernstes: Vielleicht gehören antiquierter Ernst und Verblödung im Spaß zusammen. Deshalb sagte ich ja auch, es sei wichtig, aus ernsthaften Gründen einen bestehenden Ernst zu verlassen. Ich halte, wie Adorno, Intelligenz für eine Kategorie der Moral, aber ich halte auch das künstlerische Arbeiten für moralisch, wenngleich ich weiß, dass die Werbung für jeden, der sein Auskommen haben will, besser amoralisch ausfällt. Wenn man amoralisch provokativ arbeitet, hat das viel mehr Zulauf und Aufsehen.

Bekannt ist das Problem, dass der Künstler zwar ein moralisches Werk oder ein Werk voller moralischer Propaganda hat, währende das Leben des Künstlers relativ leicht als eine in moralischen windschief zu enttarnen ist. Als man endlich Elias Canetti nachgewiesen hat, dass er ein ziemlicher Winzling und moralischer Widerling war, konnte man - so personalisiert, wie das in unseren Breiten abläuft - aufatmen und sich das Werk ersparen, weil sein Werk ja immer ein Angebot zur Moral war.

Timm: Es stimmt, dass Autoren, die in ihrer Schreibrichtung so etwas wie einen moralischen Anspruch haben, besonders gefährdet sind. Böll ist auch so ein Fall, wo man ständig im Privaten sucht, wie man ihm etwas nachsagen und seinen Anspruch demontieren könnte. Ich würde aber umgekehrt versuchen, mich dem zu nähern. Von meinem Schreiben her muss ich in der Lage sein, alle Fragen stellen zu können. Ich muss versuchen, auch den dunkeln Ecken meiner Fantasie, meiner Wünsche Ausdruck zu geben.

Schuh: Das ist ja gerade eine bestimmte Art von Moral. Die Gefahr des Bindens der Ästhetik an Moral ist die Gesinnungsästhetik: Das Ersetzen von Ästhetik oder dem, was oben so schön Spiel hieß, durch verschiedene Demonstrationen einer Gesinnung. Was der Moralist mit seiner Ästhetiker haben will, ist, dass man ihm Recht gibt. Er schätzt die juristische Sphäre mehr als die ästhetische und behauptet deshalb, sie würde in eins fallen. (DER STANDARD, Printausgabe vom 24/25.4.2004)


Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, erlernte zunächst den Beruf des Kürschners, bevor er das Abitur nachholte und Philosophie, Soziologie und Germanistik studierte. Seit 1971 lebt er als Schriftsteller in München. Bis 1984 war er Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei. Sein Buch "Heißer Sommer" (1974) gilt als erster Roman über die Studentenbewegung. Im vergangenen Jahr erschien bei Kiepenheuer "Am Beispiel meines Bruders" (eine Spurensuche nach dem Bruder, der sich freiwillig zur SS meldete).

Franz Schuh, Jahrgang 1947, studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Er lebt als Schriftsteller und Kritiker in Wien, er ist Krimiliebhaber und bezeichnet sich selbst als "Taschenbuchrezensent" (u.a. für "Die Zeit"). Zuletzt erschien von ihm bei DuMont "Schreibkräfte. Über Literatur, Glück und Unglück".

Es handelt sich hier um ein Gespräch, das im Rahmen der neuen Veranstaltungsserie "Erwörterungen" im Antiquariat Buch und Wein stattfand. "Erwörterungen" (gesponsert von der Kommunalkredit) besteht aus der Lesung eines deutschsprachigen, aber nicht österreichischen Autors und einem Gespräch des Lesenden mit einem österreichischen Kollegen über ästhetische Positionen, Voraussetzungen des Schreibens usf.