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Ulrichsberg - Es schien, als wäre er nie weg gewesen. Wie er eine unglaubliche Vielfalt an Klangfarben aus seinem Instrument holte und gleichermaßen sinnvoll wie sinnlich zueinander in Beziehung setzte, das war weltmeisterlich. Ja, Anthony Braxton bewies im Rahmen seines Soloauftritts in Ulrichsberg, dass er in Sachen Altsaxofon nach wie vor das Maß aller Dinge ist.

Dass Braxtons Auftritte in Europa seit den 90ern rar geworden sind, hat mit seiner Professur an der Wesleyan University in Middletown, Connecticut, zu tun, die diesem brillanten Einzelgänger das Überleben sichert. Leicht hatte es Braxton trotz seiner Meisterschaft nämlich noch nie. Stichwort Soloauftritt: Schon 1968 spielte der damals 23-jährige Chicagoer mit For Alto das erste Solosaxofonalbum des Jazz ein. Und eckte bereits damals mit seinem Interesse an der europäischen Avantgarde in afroamerikanischen Musikerkreisen an.

"Nach dem Tod von Martin Luther King jr. bekamen jene afroamerikanischen Sprecher Oberwasser, die ein afrozentrisches Selbstverständnis predigten, die lieber einen Zaun um das zogen, was sie als ,schwarze Identität' begriffen", so Braxton. "Ich brach mit meinem Interesse an Schönberg und Stockhausen gleichsam ein Tabu." Braxton, damals mit Vorwürfen des Intellektualismus und "weiße Musik" zu machen konfrontiert, sieht eine direkte Verbindungslinie zum heutigen Jazzbetrieb: "Der in den 80ern aufgekommene Neoklassizismus wurzelte hier. Die afroamerikanische Jazzcommunity bekam etwas Inzestuöses: Alle sprachen nur mehr über Armstrong, Ellington, Charlie Parker - jene Helden, die wir ohnehin alle lieben. Es bildet sich im Jazz derselbe fragwürdige 'New-Orleans-Kanon' an Säulenheiligen heraus wie in der europäischen Klassik. Auch deswegen spiele ich in den USA kaum Konzerte."

Dass Braxton - der unter Einfluss von Sun Ra und Stockhausen, Skrjabin und Wagner eine Musikphilosophie entwickelte, diese in seinen 1700-seitigen "Tri-Axium Writings" darlegte und dieselbe wissenschaftliche Gigantomanie auch in seinen Stücken (etwa für vier Orchester und 100 Tuben) an den Tag legte - auch zum zeitgenössischen Musikbetrieb keinen Zugang fand, erklärt er so: "Ich danke Europa - ohne sein Interesse an mir als Jazzmusiker hätte ich keine Karriere gemacht. Aber für die afroamerikanische Komponisten gibt es kein wirkliches Interesse. Man schätzt das Feeling, die rhythmische Energie. Aber die intellektuellen und konzeptionellen Ideen sind irrelevant. Der schwarze Komponist ist in der Mitte zweier verschiedener Welten."

Sah es in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre kurz nach einem Durchbruch Braxtons aus, wurden in ihn sogar Hoffnungen als neue Leitfigur des Jazz nach John Coltrane gesetzt, so verschwand er nach der Nichtverlängerung seines Plattenvertrags 1980 für die breite Öffentlichkeit sukzessive von der Bildfläche:

"Meine Musik wurde in den Untergrund gedrängt", so Braxton, der seit Beginn seiner Lehrtätigkeit 1985 umso unermüdlicher komponiert. Da geht es um die Serie "Ghost Trance Music", basierend auf Schamanenritualen. Oder um seinen an Stockhausens "Licht"-Zyklus erinnerndes Projekt "Trillium", bestehend aus 36 einaktigen Opern, von denen noch 16 der Fertigstellung harren: "Zwanzig Jahre wird es wohl noch dauern, bis ich dieses Werk abgeschlossen habe." (felb)