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Günter Grass: "Man kann denen in Tschechien und Polen nicht sagen: Wir machen das, und wir werden schon auf eure Belange eingehen - das ist eine koloniale Haltung."

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STANDARD: Herr Grass, Sie haben in früheren Jahren davor gewarnt, das Zusammenwachsen Europas nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betreiben. Jetzt sind zehn neue Länder dazugekommen. Wie urteilen Sie heute über diesen Prozess? Günter Grass: Das war notwendig und auch nicht mehr aufzuschieben. Aber auch dieses größere Europa leidet schon seit geraumer Zeit unter einem demokratischen Defizit. Und natürlich werden die neuen Mitgliedsländer zuerst auf die Töpfe in Brüssel gucken - was können wir dort bekommen?

Wünschenswert wäre natürlich ein demokratischer Impuls, dass von diesen Ländern die Forderung ausgeht, das Parlament zu stärken, endlich zu einer Verfassung zu kommen, Europa außenpolitisch handlungsfähig zu machen. Die letzten Krisen bis zu dem durch nichts legitimierten Irakkrieg machten deutlich, wie ohnmächtig Europa in solchen Situationen ist.

STANDARD: Was bringen die ost-und mitteleuropäischen Länder mit in diese EU?

Grass: Zuerst einmal ihre eigene Kultur. Sie werden uns lehren - auf sehr höfliche Art und Weise, wie dies in Mitteleuropa üblich ist, aber doch sehr deutlich -, dass die Mitte Europas nicht in Paris, sondern in Prag liegt. Es wird nicht nur eine Verwestlichung der Beitrittsländer langsam vonstatten gehen, sondern wir werden uns auch veröstlichen.

STANDARD: Befürchten Sie die Rückkehr alter europäischer Gespenster wie etwa das Anwachsen von Antisemitismus und Nationalismus?

Grass: Das wird von Land zu Land verschieden sein. Wir haben hier in Deutschland über Jahrzehnte hinweg die Erfahrung gemacht, dass der Vergangenheit nicht auszuweichen ist. Und das trifft natürlich in unterschiedlicher Weise auch auf die neuen Mitgliedsländer zu, zum Beispiel auf Ungarn. Ungarn ist an der Deportation und späteren Ermordung von einer halben Million Juden mitbeteiligt gewesen. Ein Thema, das bis heute weit gehend ausgeklammert ist - aber dennoch wird man sich in diesem Land dieser Frage und dieser Mitverantwortung stellen müssen.

Gleiches trifft auf Litauen zu. Es trifft nicht in gleichem Maße auf Polen zu, obgleich es in Polen auch Kollaboration und Antisemitismus gegeben hat, vor dem Krieg, während des Krieges, und auch noch in der Gegenwart ist es spürbar und artikuliert sich auch auf schreckliche Art und Weise.

STANDARD: Das nachbarschaftliche Verhältnis etwa der Deutschen zu Polen und Tschechien hat sich in der letzten Zeit empfindlich abgekühlt -etwa durch den Streit um das geplante Zentrum gegen Vertreibungen - und nicht zuletzt auch durch das Festhalten der tschechischen Politik an den umstrittenen Benes-Dekreten. Wieso wird hierüber heute so heftig gestritten?

Grass: Polen hat eine leidvolle Erfahrung gemacht, die Tschechoslowakei auch. Die Wunden schmerzen bei Wetterumschlag immer noch. Es gibt in Polen kaum eine Familie, die nicht davon betroffen ist, was in deutscher Verantwortung in diesem Land geschehen ist. Und wenn dann dieses Projekt - Zentrum gegen Vertreibung mit Standort Berlin - forciert in die Welt gesetzt wird, muss man sich nicht wundern, wenn man darauf empfindlich reagiert.

Es ist richtig und notwendig, dieses europäische Thema "Vertreibung" anzugehen. Aber wenn man das auf das Verhältnis zu Polen und Tschechen konzentriert, dann kann man denen nicht sagen: Wir machen das in Berlin, und wir werden schon auf eure Belange eingehen - das ist eine koloniale Haltung.

Es ist dann von polnischer Seite der Vorschlag Breslau als Standort gekommen, was auf jeden Fall richtiger wäre als Berlin. Breslau ist eine Stadt mit ausgetauschter Bevölkerung. Die Deutschen sind vertrieben worden, und die vertriebenen Polen aus Ostpolen haben unter anderem in Breslau eine neue Heimat gefunden. Mit übrigens vergleichbaren Anpassungsproblemen wie die ehemals Ostdeutschen. Wenn man sich auf diese gemeinsame Erfahrung konzentriert, auf die Erkenntnis, dass das von uns begonnene Unrecht der Vertreibung Folgen gehabt hat, unter denen wir auch zu leiden hatten, dann wird man sich der Problematik besser nähern.

STANDARD: Sie haben gesagt: Ein Unrecht bedingt das andere - mit Blick auf die Vertreibungen und auf den Bombenkrieg. Haben wir uns zu wenig mit dem Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg beschäftigt?

Grass: Das ist sicher richtig. Aber es liegt eben auch daran, dass die Fähigkeit nicht weit verbreitet ist, zu erkennen, dass das uns zugefügte Leid, sei es durch Bombenkrieg, sei es durch Vertreibung, ein Leid ist, das wir selbst ausgelöst haben. Wenn man diesen komplexen Sachverhalt im Auge hat, hört das lineare Argumentieren auf. Dann wird es eben das Einerseits-andererseits, dann muss man die Relationen sehen. Dann kann man eben einfach nicht verdrängen, dass wir mit Warschau, mit Rotterdam und Coventry angefangen haben.

Wir haben angefangen, gleich nach der Besetzung polnische Bauern von ihren Höfen zu vertreiben, um die aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes aus dem Baltikum anreisenden Baltendeutschen dort anzusiedeln. Das war die erste Vertreibung innerhalb dieses Prozesses.

STANDARD: Polen und sieben weitere Staaten in Osteuropa haben sich hinter die amerikanische Kriegspolitik im Irak gestellt. Hat dies zur Trübung des Verhältnisses geführt?

Grass: Das würde ich so nicht sagen. Es ist zum Teil ja sogar zu erklären, auch wenn ich es für falsch halte. In Polen wie auch in Ungarn oder in Tschechien schätzt man den eigenen Beitrag zum Zusammenfall der Sowjetunion relativ gering ein. Es ist die Großmacht Amerika, die "uns" befreit hat, und aus diesem verkürzten Verständnis der eigenen Geschichte und Entwicklung kommt dann so etwas auf, das wir aus unserer eigenen Geschichte her ganz gut kennen: eine "blindlingse" Vasallentreue.

STANDARD: Kann man eigentlich auf ein gesamteuropäisches Werteverständnis mit den neuen Mitgliedern in Osteuropa hoffen? Gibt es so etwas wie übergreifende Identität?

Grass: Eine gemeinsame Identität ist ein Wunschbild. Diese Identität traf nicht einmal auf Westeuropa zu, wie soll sie nun aus dem Stand heraus auf Gesamteuropa zutreffen! Das ist ein sehr langer Weg. Das liegt auch daran, dass der Prozess der europäischen Einigung vor allem wirtschaftlich orientiert gewesen ist. Selbst der politische Teil hinkt hinterdrein, und was immer vernachlässigt worden ist oder allenfalls als schmückendes Bonbon benutzt wurde, ist der gesamte Bereich der Kultur.

Wenn sich eine europäische Identität beweisen oder entwickeln soll, dann wird das niemals auf wirtschaftlichen Interessen beruhen können. Sie sind divergierend und werden es bleiben, aber es gibt gemeinsame kulturelle Entwicklungen, es gibt Mischungen dieser und jener Art, Einflüsse über Jahrhunderte hinweg, von denen man natürlich Kenntnis nehmen muss.

Wenn man also Identität entwickeln will, dann ist die kulturelle Verbundenheit, das Feststellen der Vielfalt innerhalb der Einheit eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür. Das wird immer ein Prozess mit Fortschritten und Rückschritten sein, auch mit Überraschungen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5. 5. 2004)