Die Größe eines Nobelpreisträgers zu ermessen, dazu gehört nicht viel. Aber seine Kleinlichkeit kann einem unauslotbar erscheinen. Das ideale Medium der Kleinlichkeit ist die kleine Form. Auch aus der kleinen Form lässt sich ein dickes Buch machen, sogar ein großes. Sie taugt für große Gedanken genauso gut wie für kleine Gemeinheiten.

Elias Canettis in Auswahlbänden publizierte "Aufzeichnungen" sind Sudelbücher im Sinne Lichtenbergs: mit Beobachtungen, Gedanken, Aphorismen, Charakterbildern. Da geht es mitunter auch ums Besudeln, ums Anpatzen. Über Theodor Kramer schreibt Canetti unter dem Titel Mein Freund, der Heimatdichter: "Er liebt die Bauern, weil sie um eine große Schüssel beisammen sitzen, und richtet es so ein, daß er bei mehreren von ihnen nacheinander einkehrt. Bei den Arbeitern ist er Sozialist. Gegen eine Revolution ist einzuwenden, daß sie die Nahrungsversorgung eine Zeitlang gefährden könnte."

Canetti ist ein Charakteristiker von Gnaden, er drückt jedem, im ursprünglichen Wortsinn, seine Prägung, seinen Stempel auf. Und Kramer stempelt er nicht nur als Vielfraß ab, sondern auch als Dichter: "Von der Speise bis zum Kot geht ihm die greifbare Wirklichkeit über alles. Das Wort 'schreiben' in seinem Mund hat einen unnachahmlichen Ton. Es klingt nicht ganz so entschlossen wie 'scheißen', obwohl es sehr daran erinnert. Es klingt aber auch sachlich, denn mit dieser Münze zahlt er."

In seinen bösen Porträts bildet Canetti das Opfer gern als verfressenen Banausen ab oder in all seiner es nicht minder diskreditierenden Hässlichkeit. Canetti hat seine Aufzeichnungen einmal als Ventil beschrieben, das ihm neben der Arbeit an dem Opus magnum Masse und Macht lebensnotwendig gewesen sei. So sehr er ein Verkünder des großen Werks war, so sehr genoss er die Splitterform der Notizen, im Grunde sind auch die Erinnerungsbände Kompilationen kleiner Formen.

In Das Augenspiel wird ein Fragment, Büchners Woyzeck, zur Rettung des Erzählers, dem die belesene Veza erklärt: "Was darin fehlt, ist noch besser, als was in den besten anderen Dramen da ist." Neben den Goldkörnlein misanthropischer Zeichenkunst gibt es bei Canetti wohl auch Gestalten mit Heiligenschein, dazwischen freilich wenig.

Dass "Verehrung" in seinem "seelischen Haushalt" immer eine "zentrale Rolle" gespielt habe, hat er bekannt. Genauso wichtig war ihm Verachtung. In seinen Erinnerungen führt Canetti vor, wie das eine ins andere umschlägt. Ist Karl Kraus in Band II Die Fackel im Ohr noch Gott ("Ein Runzeln seiner Stirn, und ich hätte mit dem besten Freund gebrochen"), so wird er in Das Augenspiel Zug um Zug demontiert - zuletzt erweist er dem Verstorbenen nicht einmal die letzte Ehre.

Die Vollständigkeit der Transformation ist unheimlich, wie es stets unheimlich ist, wenn einer in vollendeter Klarsicht seinem früheren Ich abschwört. Beständiger ist Canetti in seinem Hass: "Sich unterordnen, um genauer zu hassen", lautet seine Devise. In seiner Wiener Zeit erprobte er das an Alma Mahler und Franz Werfel: Der war bei einer Lesung Canettis aus Komödie der Eitelkeit (wie Die Blendung damals noch ungedruckt) mit den Worten "So lassen Sie doch die Finger davon!" aus dem Zimmer gestürmt. Der Zurechtgewiesene beharrt auf der Proklamation eines rein objektiven Widerwillens gegen den Dichter des O-Mensch-Pathos, gegen sein Äußeres und seine Art: "Es gluckste in ihm, dick wie er war, von Liebe und Gefühl, kleine Teiche davon erwartete man auf dem Boden um ihn zu finden und war beinahe enttäuscht zu sehen, daß es um ihn so trocken blieb wie um andere."

Autobiografisches lässt sich nicht rein ästhetisch konsumieren, es verwickelt. Canettis Selbstkritik entpuppt sich als Scheinverfahren, als kaschierte Selbstgerechtigkeit. Canetti wütet vom Standpunkt des Moralisten, der die Ablehnung seiner selbst als Gesetzesbruch ahndet. Schreibend wird der Giftzwerg zum Tintengiganten. Eine Form der Hygiene: "Es ist nur gut, sich manchmal zu hassen, nicht zu oft; sonst braucht man wieder sehr viel Haß gegen andere, um den Selbsthaß auszugleichen." Symbolisch kastriert werden nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die sich Größe anmaßen - wie Iris Murdoch, Canettis Geliebte der "englischen Jahre", nachzulesen im peinlich intimen Nachlassband Party im Blitz, für den der Autor nichts kann.

Vielleicht hätte er sich gar nicht geschämt: "Nicht um Nachsicht bittet er, er bittet um Vielsicht." (DER STANDARD, Printausgabe, 13.5.2004)