Mit der Frage, wer nun realer sei - Shakespeare oder Hamlet -, stellte der portugiesische Autor Fernando Pessoa am Anfang des 20. eine der Kernfragen des 21. Jahrhunderts: die Frage nach der Beschaffenheit von Realität und Fiktion. Hat Shakespeare existiert? Und vor allem - ist die Klärung dieser Frage wirklich wichtig? Führt Hamlet, der Grübler, nicht auch ohne sie ein höchst emanzipiertes Dasein? Pessoa hätte auch nach Homer fragen können. Ist Homer Wirklichkeit oder Erfindung? Realer als Achill, als die Ilias? Als Troja, die Stadt Ilion?

Von Troja existieren Steine, wie wir, Frank Calvert und Heinrich Schliemann sei Dank, seit etwa 140 Jahren wissen. Von der Ilias die festgeschriebene Sprache. Immerhin 16.000 Hexameter lang besingt sie, in 24 Büchern, den Zorn des Achill (und schickte überhaupt den Zorn, die "menis", als erstes geschriebenes Wort in die Welt der abendländischen Literatur), nebenbei den Untergang Trojas.

Und Homer? Der blinde Sänger? Jahrhunderte hindurch wollten die Philologen den ersten Dichter des Abendlandes Achill an die Seite stellen, eine literarische Figur. Die Ilias, entstanden um 750 vor Christus, und die um fünfzig Jahre jüngere Odyssee, so wollte es die Wissenschaft, zeugten in ihrer stilistischen Heterogenität von vielerlei Vätern (an Mütter dachten sie ohnehin nicht). Beide seien Liedsammlungen, über die Jahrhunderte entstanden, dann zusammengetragen und aneinander gestückelt. Momentan ist man anderer Meinung. Homer soll zumindest die Ilias verfasst haben dürfen. Deren hochkomplexe, ja raffinierte Komposition man nun, nach 2700 Jahren, mithilfe Wolfgang Schadewaldts, erkannt haben will. Homer verfügt seit einigen Jahrzehnten sogar über einen Zweitnamen - ursprünglich soll er Melesigenes geheißen haben - und über einen Geburtsort: Smyrna habe den "bestbegründeten Anspruch" auf den großen Rhapsoden, heißt es meist. (Während andere wieder niemand haben will. Augsburg etwa gäbe den Kommunisten Brecht gern her. Oder tauschte ihn gegen Homer mit Smyrna). Sein Grab verlegt die Tradition auf die Insel Ios.

Wie dem auch immer sei, verifizierbare Realität erlangte die Ilias für Schüler bereits im 6. Jahrhundert vor Christus. Bereits damals wurde sie Schulstoff (und blieb es über 2000 Jahre lang. Goethes Faust hat es bisher auf 200 gebracht), die Beschreibung der 51 Kriegstage. In denen Achill erst Agamemnon grollt und schmollend den Kriegsdienst verweigert, dann, nach dem Tod seines Freundes Patroklos sich selbst - weshalb er doch zu den Waffen greift und mit der Ermordung Hektors den Untergang Trojas einleitet.

Wolfgang Petersens "Verfilmung" seines Weltengesangs entlockte dem Dichter vermutlich ein höchst homerisches Gelächter. (DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.5.2004)