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Kenzaburo Oe:
Der atemlose Stern
Aus dem Japanischen von Nora Bierich. €26,50 /324 Seiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2003.

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Nobelpreisträger Kenzaburo Oe

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Kenzaburo Oes Roman Der atemlose Stern ist der dritte Teil einer Trilogie mit dem Gesamttitel Grüner Baum in Flammen. Die beiden ersten Bände wurden von der deutschsprachigen Literaturkritik zurückhaltend besprochen. Die wenigsten Rezensenten konnten etwas mit den verästelten und verschachtelten esoterischen Geschichten des japanischen Nobelpreisträgers anfangen. Unter anderem wurde auf die "Grenzen der Übersetzbarkeit" hingewiesen. Warum aber sollte es schwierig sein, das Wort "Erlöser", so wie es im Japanischen gebraucht wird, richtig zu verstehen? Ist doch der christliche Glaube in Japan seit langem verbreitet, und das originär japanische Wort dem europäischen "Messias" nachgebildet.

Nein, an der Übersetzbarkeit liegt es nicht, eher schon an den einzelnen Übersetzungen von Oes Romanen. Und zuletzt vielleicht an den Originalen selbst, denn Oes Stil, damals bewusst von den herrschenden Sprachgebräuchen abweichend, war in Japan schon in den sechziger Jahren Gegenstand von Diskussionen. Dreißig Jahre nach diesen Diskussionen schrieb Oe, er habe inzwischen eingesehen, dass seine Romane "schlecht geschrieben" seien. Er erklärt dies mit seiner nach der Übersiedlung nach Tokio geschwundenen Vertrautheit mit der mündlichen Sprache seiner Herkunft, einem Dorf in den Wäldern von Shikoku, wo auch Grüner Baum in Flammen zumeist spielt. Auch durch den Schleier der deutschen Übersetzungen gelesen wirkt Oes Sprache künstlich, durchwegs in der Reflexivität des Schriftlichen befangen selbst dort, wo lange Dialoge oder Monologe die Seiten füllen.

Wie der Roman Eine persönliche Erfahrung, mit dem Oe Ende der sechziger Jahre international bekannt wurde und der auch heute nichts von seiner erzählerischen Wucht eingebüßt hat, ist auch die Trilogie voll von Ereignissen, die in dieser Fülle schier unglaublich wirken. Der Leser glaubt den Geschichten des frühen Romans ohne weiteres - nicht unbedingt deshalb, weil sie "wahrscheinlich" sind, sondern weil sie eine Frische und Unmittelbarkeit ausstrahlen, die solche Zweifel nicht aufkommen lassen. Beim Spätwerk hingegen fällt es schwer, all die Ungeheuerlichkeiten einfach so hinzunehmen. Die Ereignislinien sind mit einer bedächtigen Strategie der meist nur kurzen Vorausblicke und Rückgriffe erzählt, in kleinen Bögen, die zunächst skizziert und dann ausgefüllt werden. Dies macht das Erzähltempo schleppend, führt aber andererseits dazu, dass das Erzählte selbst, sofern sich der Leser in Geduld zu üben versteht, nachhaltig wirken kann. Diese Art des Erzählens ist in Europa derzeit nicht üblich; noch weniger in Nordamerika oder in Büchern (etwa Haruki Murakamis), die nordamerikanischen Mustern folgen.

Der Erzähler von Oes Romantrilogie ist ein Hermaphrodit, sein Geschlecht also doppelt, doppeldeutig, ambivalent. Obwohl noch jung, legt er (oder sie) beim Erzählen eine Betulichkeit an den Tag, die in schärfstem Widerspruch zu den außergewöhnlichen, teils horrenden, teils wundersamen Ereignissen ihres Alltags stehen. Zu Beginn von Der atemlose Stern erfahren wir von der Flucht des Erzählers aus dem Einflussbereich jener sektenartigen Gruppe in Shikoku, um die sich das gesamte Werk dreht, und von seinen sexuellen Abenteuern. Mit uneingeschränktem Lustgewinn prostituiert er sich, offenbar in beiden Geschlechterrollen. Die Sprache seines Berichts ist so beherrscht, dass in keinem Augenblick der Verdacht auf Pornographie aufkommen kann. "Ich hatte Lust, alle Schranken hinter mir zu lassen und in einem sexuellen Morast zu versinken beziehungsweise mich aktiv dort hineinzustürzen" - so beamtenhaft werden die Exzesse verzeichnet. Letztlich handelt es sich bei diesen Ausschweifungen unter Anleitung des Kirchenvaters Augustinus (seine Bekenntnisse gehören neben den Schriften Simone Weils zur Lektüre des Erzählers) um eine religiöse Erfahrung.

Wo es um Sexualität geht, ist der Widerspruch zwischen Sprache und Geschichte besonders auffällig. Er prägt aber letztlich die Trilogie in ihrer Gesamtheit und lässt sich an den vielen erzählten Extremsituationen feststellen. So etwa, wenn Bruder Gii, die eigentliche Hauptfigur, davon berichtet, wie er nach einem Unfall schwer verletzt in der Einöde von Shikoku lag: "Ich schrie laut, denn ich litt im Dunkeln unerträgliche Schmerzen und hatte auch sonst noch furchtbaren Kummer." Könnte die unfreiwillige (?) Komik an dieser Stelle tatsächlich einmal auf das Konto der Übersetzerin gehen, so liegt das Problem im folgenden Beispiel ausschließlich an Oes Erzählweise: "Obwohl mitten im Winter der Himmel die ganze Nacht über voller Wolken gehangen hatte (ich weiß das, weil ich nicht schlafen konnte und wach lag), strömte der Regen aus dem endlich grauenden Himmel. In Regenmantel und Kapuze (ein Schirm erschien mir bei dem Überfall ungeeignet), wurde ich von dem Regen völlig durchnässt." Solche Erklärungen, Berücksichtigungen von Details, die im "wirklichen" Leben kein Mensch vornimmt, hatte sich Oe bei der Niederschrift von Eine persönliche Erfahrung erspart. Die überzeugende Seltsamkeit dieses Romans hat nicht zuletzt mit dem rücksichtslosen Geltendmachen des Erzählten zu tun.

Eine persönliche Erfahrung handelt von einer Geburt - beziehungsweise von den traumatischen Auswirkungen dieser Geburt auf den Vater. Das Kind ist nämlich ein kleines Monster, es hat einen Auswuchs am Kopf. Der Ansatz zu diesem Text ist autobiografisch: Oes erster Sohn Hikari blieb geistig behindert. Die extravaganten, halb irren Reaktionen des Vaters in der Fiktion werden denen Oes in der Wirklichkeit wohl nur sehr bedingt entsprechen. Sicher ist, dass Oe in den Jahren nach Hikaris Geburt sich alle Mühe gab, zusammen mit seiner Familie dem Behinderten eine vorbildliche Umgebung zu schaffen. In mehreren seiner Bücher wird das Leben mit Behinderten thematisiert, in fast allen kommt Hikari oder eine ihm nachempfundene Figur zumindest am Rande vor, so auch in Der atemlose Stern. 1995, als der letzte Teil der Trilogie in Japan erschien, veröffentliche Oe noch ein anderes Buch mit dem Titel A Healing Family (so der Titel der englischen Übersetzung). Darin beschreibt Oe verschiedene Episoden aus dem Leben seiner Familie, darunter auch eine Reise mit Hikari und seiner Frau nach Salzburg und Wien, zwei Musikhauptstädte der Welt. Hikari hatte als Kleinkind eine besondere Beziehung zu Vögeln und ihren Stimmen entwickelt, bevor er sich der klassischen Musik zuwandte und selbst zu komponieren begann. Das Familienbuch beeindruckt durch die Mühe und Aufmerksamkeit, mit der Oe das Ideal eines sanften Humanismus zu verwirklichen trachtet. Freilich wächst während der Lektüre auch der Verdacht, dass dieses allumfassende Bedenken der Bedürfnisse des anderen, der auf meine Unterstützung angewiesen ist, für das literarische Schaffen zum Hemmnis werden kann. Wie viel Humanismus braucht die Kunst? Wie viel verträgt sie? Diese Frage stellt sich hinter dem Rücken jenes freundlichen Mannes, der sich in seinem Studio Szenen von Katastrophen, Gewalt und scheiternder Erlösung ausdenkt.

Oe geht es in seiner Trilogie darum, die Möglichkeiten eines von spirituellen Werten geleiteten und auf Naturnähe ausgerichteten Daseins in einer postindustriellen Gesellschaft auszuloten. Er tut dies mit einer grundsätzlichen Ambivalenz, die sich in der Figur des Hermaphroditen spiegelt. Einerseits brauchen die Menschen die Idee der Erlösung von irdischer Not, sei es auch nur, um geistig "überleben" zu können; andererseits können wir sie nur um einen Preis haben, der, wie die jüngere Vergangenheit gelehrt hat, allzu hoch ist. Die Sekte vom Grünen Baum in Flammen hat politische, ökologische und religiöse Motivationen und Ziele. Diese Mischung ist, wie Oe weiß, gefährlich. Oe weiß aber auch, dass sich in Millionen Menschen hartnäckig gewisse Sehnsüchte regen, die sie im postindustriellen Alltag mit mickrigen Zeitungshoroskopen und diversen Angeboten aus der Rubrik "Leib und Seele" zu befriedigen versuchen. Oe hat sich diesen Themenkomplex zum Anliegen gemacht, weil er ihn nicht den Erzeugnissen jener billigen Esoterik überlassen wollte, die, von den Vertretern der gehobenen Literatur kaum mit einem Nasenrümpfen bemerkt, die Regale der Buchhandlungen füllen. Der Versuch eines besseren Lebens, der Zwang, dieses auch zu organisieren, die unvermeidlich auftretenden Machtfragen - Oes Trilogie entfaltet sich fast wie ein traditioneller Gesellschaftsroman. Am Ende findet man in Der atemlose Stern sogar eine Lösung; eine schwache, bescheidene Lösung im Sinn von Voltaires Candide: Nach all den hochfahrenden Bestrebungen erfolgt der Rückzug in den eigenen Garten, die Abkehr von der Vision einer weltumspannenden Kirche hin zu den ganz persönlichen "Belangen der Seele", wie Bruder Gii es nennt, oder, in religionsgeschichtlicher Terminologie, zu einer Art Pietismus. Der Erlöser, wenn es denn einen geben muss, kann immer nur der Stellvertreter eines kommenden Stellvertreters des (wirklichen) Erlösers sein, und es gibt Augenblicke, da auch für einen Stellvertreter das Beste, was er tun kann, sein Abdanken ist.

In Japan lässt sich die Landschaft der religiösen und quasi-religiösen Sekten heute kaum noch überschauen. Eine ernsthafte öffentliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen findet aber immer nur dann statt, wenn es zu einem Ereignis wie dem Giftgasanschlag in der U-Bahn in Tokio kommt. Haruki Murakami, dessen Erzählungen häufig das Esoterische streifen, hat ein (in Japan verhältnismäßig wenig gelesenes) Buch über diesen Anschlag geschrieben. Josef Haslingers kurz vor dem Anschlag entstandener Roman Opernball wurde in Japan (nachträglich) im Sinn einer Vorhersage rezipiert. An Opernball finde ich weniger das "Prophetische" interessant als jene Mischung aus politischem und religiösem Erlösungsdenken, wie es der "geringste Bruder" - der Drahtzieher des Anschlags auf die Wiener Staatsoper - verkörpert. Oes Trilogie um den Bruder Gii arbeitet nicht mit den Strickmustern des Thrillers, ihr eignet auch nicht jene Leichtigkeit, mit der Murakami zur Zeit so erfolgreich ist. Während Murakamis Bücher den Leser im Moment der Lektüre nach allen Regeln der Erzählkunst umwerben und gefangen nehmen, sind die von Oe sperrig, sie bleiben auf Distanz. Hat man sich aber einmal ernsthaft auf sie eingelassen, wird man die Erfahrung machen, dass sich ihr Gehalt nach beendeter Lektüre nicht, wie es einem bei Murakami geschehen kann, rasch verflüchtigt, sondern sich im Gegenteil verdichtet: Die Wirkung hält an, die Strukturen werden im Nachhinein klar, die aufgeworfenen Fragen verfolgen einen bis weit ins eigene Leben. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.5.2004)