Samuel Pepys - Die geheimen Tagebücher
Eichborn Verlag 2004
ISBN: 382183742X

Foto: Buchcover

Eintrag vom 11. März 1661: "Zu Hause zeigte mir meine Frau ihre neuen Zähne, die sie sich von La Roche hat machen lassen. Sie sehen wirklich sehr hübsch aus, und ich bin sehr zufrieden damit. Zu Bett." Oder, am 29. Juni 1667: "Hatte in der Nacht einen schrecklichen Traum: Mein Vater, meine Schwester und meine Mutter kamen zu Besuch und begegneten meiner Frau und mir an der Tür zum Büro, als wir gerade ausgehen wollten." Oder, 20. März 1668: "Blieb zur Schonung meiner Augen den ganzen Abend zu Hause, spielte auf meinem Zimmer Geige und machte mir Notizen zur Verbesserung der Kompositionslehre."

Neureicher, wichtigster Mann der britischen Marineverwaltung, Schürzenjäger, herrschsüchtiger Vorgesetzter, Chronist seiner Zeit: Egal, wie man Samuel Pepys (1633 - 1703) definieren mag: Die geheimen Aufzeichnungen des Beamten, die aus den Jahren 1659 bis 1669 überliefert sind - sie zählen nicht nur zu den bedeutendsten Dokumenten ihrer Zeit, sondern gewähren auch dem heutigen Leser einen amüsanten Blick durchs Schlüsselloch auf eine denkbar exzentrische Existenz. Leider waren Pepys' Tagebücher im deutschen Sprachraum bis dato nur in Auswahl-Editionen verfügbar - ein Mangel, den auch die jüngste bei Eichborn erschienene Kompilation nur teilweise behebt. Immerhin gelingt es den Herausgebern, dem 2003 verstorbenen Zeichner und Literaturliebhaber Volker Kriegel wie auch dem Essayisten und TV-Macher Roger Willemsen (der Kriegels begonnene Edition fortführte), das hiesige Pepys-Bild um wesentliche Facetten zu erweitern.

der Standard: Was waren Ihre Kriterien?

Roger Willemsen: Die bis dato vorhandenen deutschen Ausgaben waren, oft motiviert aus literaturwissenschaftlichem Interesse, sehr interessiert am Sozialen, Politischen, Höfischen. Manche Herausgeber waren eher an den so genannten schönen Stellen interessiert und haben Pepys daher etwas entschweint, moralisch etwas weniger schillernd dargestellt. Unser Ansatz hingegen ging davon aus, wie simultan in dem Werk alles da ist. Also, der kommt von der Beerdigung seiner Mutter und schlägt sich erst einmal den Bauch voll im Gasthaus und befingert eine Frau und geht nach Hause und schlägt seine Gemahlin oder er beugt sich über die Akten und stellt fest, dass er nie so viel Geld verdient hat wie in diesem Jahr.

Vor uns entfaltet sich da bereits ein postmodernes Individuum, in dem Ästhetisches, wissenschaftliche Neugier, historische Beobachtung, Dokumentarisches - alles nebeneinander - existiert. Und diesen Pepys des Simultanen, den hat es zumindest im deutschen Sprachraum so noch nicht gegeben.

der Standard: Verkürzt gesagt: Nachdem sich lange Zeit die Literatur- und Gesellschaftsgeschichte mit diesem Text herumgeschlagen hat, kommen jetzt endlich die Leser zu ihrem Recht, in einer direkten Konfrontation in Augenhöhe.

Willemsen: Ja, mit einem Autor, der kein einziges Tagebuch kennen konnte, weil es bis dahin kein einziges veröffentlichtes Tagebuch gab. Der sich deshalb seine Form überhaupt erst erschaffen muss - anders als etwa Rousseau, der pietistische Literatur kannte und der sich halt zu bestimmten Dingen bekennt, wie Onanie, und jeder denkt: Oh Gott, ist der ehrlich! Und dabei ist alles, was er unabhängig davon schreibt, schlicht gelogen. Der benutzte das Genre dieser so genannten Confessiones für das genaue Gegenteil.

der Standard: Zusammenzusammeln, was man getan und gedacht hat: Wie würden Sie den Punkt beschreiben, an dem es Samuel Pepys dazu drängte, das zu tun?

Willemsen: Das ist keine leicht zu beantwortende Frage, da Pepys keine Form von Eitelkeit gegenüber einer potentiellen Nachwelt besitzt. Er hat keine Überzeugung über die Schönheit seines Innenlebens.

der Standard: Es fehlt ihm noch die Pose, die mit vielen späteren Tagebüchern der Gesellschafts- und Literaturgeschichte einhergeht.

Willemsen: Er agiert vor niemandem. Er schreibt diese Tagebücher buchstäblich für sich selbst, und zwar in der zum Teil unschmeichelhaftesten Form. Es ist ja auch bezeichnend, dass er sie zum Teil in einer Geheimschrift abfasste und dann unbeschriftet in seine insgesamt 3000 Bände umfassende Bibliothek in Cambridge einordnete, sodass sie erst durch einen Zufall hundert Jahre später gefunden wurden. Pepys wusste: Wenn diese Tagebücher zu Lebzeiten gefunden worden wären, wäre er ins Gefängnis gewandert. Sie stellen ihn, obwohl er ein ziemlicher Opportunist war, ins Umfeld der Königsfeinde. Weiters wäre er als ein moralisch höchst defizientes Individuum gesehen worden: Erstens, was die Korruptheit angeht, die Bevorteilung von Leuten, die von ihm abhängig waren. Zweitens wegen seiner Frauengeschichten, die sich genauso durch das Werk ziehen wie durch das Casanovas und zum Gutteil in semiprostituierten Verhältnissen ablaufen.

der Standard: Andererseits verhält es sich mit diesen Aufzeichnungen doch wohl so wie mit den ganz vertraulichen Mitteilungen. Wenn man zu jemandem sagt: Das erzähle ich nur dir, sag es nicht weiter - dann besteht doch auch zumindest unbewusst der Wunsch, dass es jetzt jemanden geben möge, der das weiterträgt. Kann es nicht sein, dass Pepys eine dumpfe Ahnung hatte, dass es etwas geben soll wie einen Beleg seiner selbst für die Aussen- und Nachwelt?

Willemsen: Das würde voraussetzen, dass sich irgendein Gedanken an Nachwelt in dem Werk findet. Man hat aber nicht das Gefühl, dass für Pepys eine historische Zukunft existiert, in der alles aufgehoben wäre. Er wäre fassungslos gewesen, in seiner relativ banalen alltäglichen Neugier, heutzutage als einer der historisch wichtigsten Engländer gesehen und gelesen zu werden. Vor uns liegt die seltene Ausformung einer Tätigkeit, bei der derjenige, der sie ausübt, nicht den Schatten einer Idee hatte, welche Bedeutung und welchen Radius das hat, was er tut.

Er hat offenkundig kaum jemals wieder zurückgelesen. Er hat Stellen ausgelassen, die er noch einfüllen wollte, er hat Namensschreibungen mit Fragezeichen versehen: Nichts davon ist später korrigiert. Insofern kann man sagen: Es ist eine Manifestation, die den Alltag begleitet, die ihn transzendiert in der Schrift, aber mehr nicht.

der Standard: Wenn man Samuel Pepys vor dem Hintergrund unserer Gegenwart sieht, in der Tagebücher, Selbstbekenntnisse und schnelle Autobiographien sich höchster Beliebtheit erfreuen - welche Schlüsse ziehen Sie da?

Willemsen: Ich würde heute drei Formen von (Selbst-)Befragung und Inszenierung unterscheiden: Da gibt es die einen, die den Alltagsmüll noch einmal kompostieren, indem sie ihn festhalten. Die schreiben das Weisse Rauschen der beschleunigten medialen Reize gewissermaßen fort - man denke an Walter Kempowskis Bloomsday-Buch, das Protokoll eines Tages, an dem er sich permanent durchs TV-Programm gezappt hat. Das zweite wäre das Tagebuch als Steinbruch und literarische Werkstatt: siehe Rainald Goetz und seinen Abfall für alle. Das finde ich eigentlich interessanter.

Und drittens wären da diejenigen, die überzeugt sind, bereits historische Figuren zu sein und dann alles, was sie schreiben, interessant finden. Siehe jüngst Catherine Deneuve in ihrem Tagebuch. Wenn man dagegen Pepys liest: Ich kenne, abgesehen von Hebbels Journalen oder vielleicht auch Flauberts Briefen kaum Privatnotizen, in denen die Spannweite so groß ist - zwischen Wissenschaft und Kunst, Politik und Alltag, Öffentlichkeit und Eigensinn. Das erste Aquarium ansehen, Schauprozesse besuchen, Kriegsberichterstatter sein, sich mit revoltierenden Hafenarbeitern treffen: Pepys hat zwar keine dramatische Biographie, und er ist nicht einmal viel gereist, aber er . . .

der Standard: . . nimmt das Drama der zumehmend komplexen Mikrobereiche des Lebens vorweg?

Willemsen: Genau.

der Standard: Sie haben als Talkshowmoderator jahrelang an der Aufgabe gearbeitet, "Privatheiten" freizulegen. Was hieß das in einem Medium, das zunehmend den Geständniszwang zelebriert?

Willemsen: Letztlich geht es doch wohl immer um den Versuch, "Ich!" zu sagen. Und das Fernsehen lässt, je stereotyper es fragt, immer mehr Raum für ein medial vermittelbares Ich. Das heißt: Zuerst einmal entzündet es den Hang, dieses Ich wichtig zu nehmen - aus Anlass etwa einer Autobiographie wie der von Franz Beckenbauer. Einer wie ich. Das will wohl sagen: Es kann keinen Zweiten wie ihn geben. Und dann der Titel der Fortsetzung: Ich - wie es wirklich war. Diese Balance zwischen "Ich" und "Es", zwischen dem Individuum und seiner Bedeutsamkeit - das regt das Fernsehen permanent an.

der Standard: In den Talkshows geht das über die Frage: Haben Sie gute Geschichten zu erzählen?

Willemsen: "Gut" heißt aber: Die müssen fernsehkompatibel sein, und dann lesen die Redakteure bei der Aufzeichnung hinter den Kulissen genau das mit, was der Gast bereits in den vorbereitenden Gesprächen gesagt hat und wieder reproduziert. So entsteht das Gefühl, dass auch Sky Dumont oder Dieter Bohlen historisch bedeutsame Figuren sind. Andererseits lässt dieses Verfahren immer Hohlräume, wo das Ich sagt: Ich bin aber auch eine schöne Seele, außerhalb dessen, was fernsehkompatibel ist. Und an der Stelle fängt es an sich zu legitimieren.

Das funktioniert auch bei Naddel oder Stefan Effenberg. Geboten werden Ersatz-Lebensläufe, der Zuseher wird mit einer Art von elektronischer Familie aus "Prominenten" umstellt. Er wird Experte für das Leben von Naddel, und Naddel gibt ihm dazu den Stoff. Einerseits ist sie natürlich "bedeutsamer" als er, andererseits betont sie: Ich bin genauso wie du. Es ist überhaupt auffällig, dass Stars heute vermehrt mit diesem "Privat sind wir ganz normal" arbeiten. Der Star als ein Rätsel, als etwas Ungelöstes, das hat sich in völlige Transparenz verkehrt: Ich geh' doch auch Eis laufen, ich bin nicht zickig.

der Standard: Schreiben Sie selbst Tagebuch?

Willemsen: Das tu ich, seit ich schreiben kann. Wobei ich einmal 500 Seiten Tagebuch auf einem Balkon verbrannt habe, in einer plötzlichen Aufwallung von Peinlichkeit: Aus einer mangelnden Souveränität der Pubertät gegenüber. Im Nachhinein denke ich: Schade eigentlich. Ich versuchte, den Brand auch noch mit kaltem Kaffee zu löschen, weil ich fast den ganzen Balkon angezündet hätte. Ich war mir damals einfach so was von widerwärtig!  (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe, 29./30/31.5.2004)