Wien - Andrés Orozco-Estrada. In der Bim schlug man - fassungslos - zum wiederholten Mal das Programmheft auf, um sich des Namens des jungen Dirigenten zu vergewissern, der eben im Wiener Musikverein mit dem Niederösterreichischen Tonkünstler-Orchester eine Vierte Bruckner hingestellt hatte von einzigartiger Pracht, Größe und sinnlichem Reichtum, eine Vierte Bruckner, die jene Aufgeblasene von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern von vor drei Wochen mit links in den Schatten gestellt hatte.

Und man rekapitulierte noch einmal schnell jene Informationen, die man vorab über den Einspringer (für den erkrankten Heinz Wallberg) erhalten hatte: 1977 in Medellín, Kolumbien, geboren, zuerst Violin-, dann Dirigierstudium. Im Frühjahr 2003 Abschluss des Letzteren an der Musikuni Wien (Klasse Professor Uros Lajovic). Seit einem Jahr Assistenzdirigent des Tonkünstler-Orchesters, vorläufig vorrangig mit der Leitung von Kinder- und Jugendkonzerten betraut.

Und man dachte zurück: wie nach weich-warm-homogen vorgetragenen Vier letzten Liedern von Richard Strauss (mit sonniger Freundlichkeit Sängerin Eva Mei) im Musikverein mit dem berühmtesten Horn-Quintsprung der Musikgeschichte eine orchestrale Metamorphose fast wunderhaften Ausmaßes begonnen, wie das Niederösterreichische Tonkünstler-Orchester Ton für Ton, Satz für Satz seine Aschenputtelkleider abgelegt und sich zur stolzen, souveränen symphonischen Regentin verwandelt hatte.

Mit Bedächtigkeit, Festigkeit und Übersicht hatte Andrés Orozco-Estrada die akustischen Biomassen Bruckners entstehen und wachsen lassen, bis sie, von elementar machtvollen Klängen der Blechbläser gekrönt, dastanden in alpiner Majestät und Größe. Dazwischen gebettet das kraftvoll strömende, warme Melos der Streicher. Erst hörte man nur zu, dann trank man die Musik, dann wuchs man durch sie, und schließlich ängstigte man sich sogar vor ihrer infernalischen Wucht und Strenge.

Ein schlagtechnisch kompletter, interpretatorisch meisterhafter, motivationstechnisch genialer Dirigent. Das Debüt des Jahres, vielleicht sogar des Jahrzehnts. Jeder fähige Orchestermanager sollte diesen Mann vom Fleck weg engagieren. Andrés Orozco-Estrada wird nicht was, er ist es schon: besser als die meisten Taktstockkollegen. (Stefan Ender/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10. 6. 2004)