Knabbern an Europa

collage: DER STANDARD/otto beigelbeck
Keep it short and stupid" - das empfehlen amerikanische Kampagnenprofis wahlwerbenden Parteien gerne. Zumindest an einen Teil dieses Ratschlages hat man sich im heimischen EU-Wahlkampf beherzt gehalten. Was es denn mit Europa und seinem Parlament auf sich habe, erfuhren die Bürger indes kaum. Dass in Brüssel und Straßburg mehr und wichtigere Entscheidungen über das Schicksal jedes einzelnen Europäers fallen als in den jeweiligen nationalen Parlamenten, verschwand zwischen Spesenvorwürfen, nationalistischen Aufwallungen und lokalen Orchideenthemen in einer abgrundtief klaffenden Vermittlungslücke.

Dabei begegnen die Bürger dem Europaparlament täglich an Tankstellen, Stränden, in Drogeriemärkten oder an Bankomaten. Die EU-Abgeordneten waren maßgeblich etwa daran beteiligt, dass spätestens ab 2009 nur noch schwefelfreier Kraftstoff in der Union zulässig ist, dass keine einwandigen Öltanker mehr europäische Häfen anlaufen dürfen, dass Kosmetikhersteller in Hinkunft auf Tierversuche verzichten müssen, dass Geldbehebungen im Ausland nicht mehr kosten dürfen als im Inland. - Mehr als 1000 "Dossiers" haben die Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEPs) in der vergangenen Legislaturperiode bearbeitet. 2200 Berichte wurden verfasst, je nach Politikfeld fallen 70 bis 80 Prozent der Entscheidungen "in Europa".

Mitentscheidung statt Konsultation

Im "Mitentscheidungsverfahren" (keine Rechtsakte können gegen den Willen des Parlaments erlassen werden) wurden 403 Dossiers unter anderem aus den Bereichen Binnenmarkt, Umwelt- und Verbraucherschutz, Bildung und Kultur bearbeitet. Zwei Drittel der Gesetze wurden in diesem Verfahren beschlossen. Der Rest wurde im Zustimmungs-oder im Konsultationsverfahren abgehandelt, in denen das Parlament weniger mitzureden hat. Nur zwei Mitentscheidungen (zu Übernahmerecht und Marktzugang für Häfen) scheiterten im Vermittlungsausschuss - d. h.: Parlament, Kommission und Rat konnten sich nicht auf eine gemeinsame Position einigen.

Tritt der Verfassungsentwurf für die Union je in Kraft, erweitern sich die Mitentscheidungsagenden dramatisch: "Jetzt betrifft sie 37 Politikfelder, mit der Verfassung werden es 92. Die Konsultation wird zur Ausnahme, die Mitentscheidung des Parlaments zur Regel", erklärt Klaus Hänsch, SP-Abgeordneter und ehemaliger Präsident des Parlaments. Das betrifft auch die Haushaltserstellung und dann vor allem volle Mitsprache beim großen Brocken Agrarbudget.

Eine Tribüne, wenig Publikum

Doch selbst mit einer gesteigerten Bedeutung scheint das Europäische Parlament eine Tribüne zu bleiben, vor der nur wenig Publikum zu finden ist. Seit der Einführung der Volkswahl 1979 sind die Wahlbeteiligungen kontinuierlich gesunken (von 63 auf 49,8 Prozent im Jahr 1999). Eine europaweite Gallup-Umfrage für den aktuellen Wahlgang geht von 47 Prozent Wahlbeteiligung in Österreich aus. Den höchsten Wert gab es in Belgien mit 78 Prozent, den niedrigsten in Tschechien mit 23 Prozent. Im EU-Durchschnitt wollen 49 Prozent der 345 Millionen Wahlberechtigten zu den Urnen gehen.

Auch wenn in Brüssel und Straßburg Sachargumente und nicht Klubzwang maßgeblich sind, es spannende Debatten gibt, die MEPs nationale Partikularinteressen im Sinne der Union ausgleichen und gefräßige "Pacmen" aus den Hauptstädten so gut es geht vom gemeinsamen Projekt fern halten - die Bürger selbst haben an Europa und vor allem seinem Procedere zu knabbern.

Und das hängt nicht unmaßgeblich mit dem Parlament zusammen. Das Hohe Haus hat gleich drei Standorte. In Brüssel finden die Ausschussarbeit und kleinere Plena statt, in Straßburg zwölfmal im Jahr die großen Plenarsitzungen und in Luxemburg sitzt das Generalsekretariat. Der Wanderzirkus erleichtert das Verständnis für die Bürger nicht unbedingt und erzeugt - wie die Übersetzungsmaschinerie - Kosten. Zu den größten Posten im 1,23-Milliarden-Euro-Budget für 2004 gehören Personalausgaben (vor allem der Dolmetschdienst) und die Verwaltung der Gebäude an den drei Sitzen.

Andererseits: Jeden Bürger der Union kostet die europäische Demokratie exakt 2,50 Euro. Das und den Gang zur Urne am 13. Juni sollte sie wert sein. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11. Juni 2004)