Nach zweistündigem Flug von Island rückt die ostgrönländische Küste ins Blickfeld: Kaum zu glauben, daß hier Menschen leben. Schneeweiße Berge mit schwarzen Zackengipfeln, soweit das Auge reicht. Und doch kamen um das Jahr 1000 die Inuit von Kanada bis an Grönlands Ostküste, in ihrer Sprache Tunu genannt – Rückseite.

Etwa 2600 Menschen leben heute in einem Gebiet, das viermal so groß ist wie die Alpen. Und so unzugänglich wie um die Jahrhundertwende, als hier die ersten Europäer zu den Inuit stießen, wäre der Distrikt Ammassalik heute noch, gäbe es nicht den Heliport.

Es ist Montag. Montags geht gewöhnlich der Helikopter von Ammassalik nach Sermiligaaq. Mogens Pind, der dänische Pilot, fliegt dann, als ginge es darum, die Fahrt in einer Achterbahn zu imitieren. In gleichbleibendem Abstand zum Boden zeichnet er Linien der Landschaft nach. Zuerst horizontal hinaus, hinweg über den zugefrorenen Fjord, hinauf dann entlang einem vergletscherten Bergrücken, drüben wieder jäh hinunter, an den Eisbergen gerade so vorbei. „Turbohundeschlitten“ nennt Mogens den Hubschrauber.

Heute fliegt Mogens nicht. Sein Flieger ist in zwei Teile zerlegt, Ammassalik abgeschnitten von der Welt. Mechaniker bemühen sich, den Rotor zu justieren, doch immer noch liegt das Heck separat auf zwei Stützen, daneben steht der Rumpf auf seinen Kufen. Plump sieht das aus und nutzlos wie ein Auto ohne Räder, aufgebockt auf Ziegelsteinen.

Winterschlaf

Ammassalik liegt in Ostgrönland – an der Küste, wo sonst. Im Landesinneren gibt’s nichts als Eis und Schnee. Die Stadt deshalb als Hafenstadt zu bezeichnen, wäre der schiere Hohn, denn neun Monate im Jahr sind Boote und Schiffe festgefroren, hält Packeis das Land in seinen eisigen Armen gefangen. Dann führt nur der Luftweg weg von hier, will man nicht Fridtjof Nansens Spuren folgen, der 1888 von der Ostküste aus auf Skiern übers Inlandeis nach Westen zog.

Es ist Dienstag: „Wegen eines technischen Defekts leider keine Flüge.“ Mehr erfahren Anrufer nicht, weder vom dänisch, noch vom grönländisch besprochenen Anrufbeantworter. Die verhinderten Reisenden bekommen ihr Geld zurück oder einen Platz auf der Warteliste.

Auch heute wird keiner von der Stadt in eines der Dörfer pendeln. Etwa 1500 Grönländer und Dänen leben in Ammassalik, je 100 bis 200 in Sermiligaaq, Kuummiut, Kap Dan, Tiniteqilaaq und Isortoq. An diesen Wohnplätzen sind fast alle Jäger, ernähren sich vom Fischfang und von der Jagd auf Seehunde. Zwischen 400 und 600 dänische Kronen kostet so ein Hubschrauberflug, öS 700,– bis 1000,–. Soviel wie ein Seehundfell gerade noch einbringt, seit Robbenjagd weltweit geächtet wird. Die Anklage hatte der Schlächterei in Kanada gegolten, Greenpeace entschuldigte sich bei den Grönländern – genutzt hat es wenig.

Es ist Mittwoch. Linda Andreassen, Leiterin des Heliports, sperrt um 5.30 Uhr die Türe auf, läuft durch den Warteraum mit den paar Tischen und Stühlen, mickrigen Topfpflanzen und Münztelefon. Linda ist launisch wie das Wetter in Ammassalik. Und für viele der erste Eskimo, den sie sehen. Mal schlägt ihnen lauthals Fröhlichkeit entgegen, aber oft brummt Linda nur kurz angebunden und scheint kein Wort zu verstehen. Sie behauptet, kein Grönländisch zu sprechen. Den Text für den Anrufbeantworter habe sie auswendig gelernt.

Linda wuchs in Ammassalik und Dänemark auf, ist Mitte zwanzig. Über ihrem Schreibtisch hängt eine Zeichnung ihrer fünfjährigen Tochter. „Wenn ich meinen Vater nicht hätte“, sagt Linda. Er, der Bürgermeister, holt das Mädchen ab, wenn Linda mal wieder Überstunden machen muß.

In den sechziger Jahren galt alles, was mit Dänemark zu tun hatte, viel. In manchen Familien wurde kein Grönländisch mehr gesprochen, so auch bei Andreassen, einem Enkel von Karale Andreassen, dem berühmtesten Bürger der Stadt. Er starb 1934.

Maler ist er gewesen, mit seinen Zeichnungen zeigte er Realität und Sagenwelt der Inuit, die an der Ostküste erst 1884 mit der westlichen Zivilisation in Berührung kamen. Gustav Holm, ein dänischer Entdecker, stieß damals auf den Stamm, zehn Jahre später wurde Ammassalik gegründet.

In den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts, als Grönland sich gerade als Staat von Dänemark gelöst hatte, wollten die fortschrittlichsten unter den Traditionalisten ihren Kindern das Dänisch ganz verbieten. Und heute, da Satellitenschüsseln und Touristenscharen die einstigen Kolonialmächte ablösen, besinnt sich Ostgrönland mit Trommeltanz-Workshops auf seine Ursprünge. So leben die Inuit ein wenig verloren mit Robbenfellen und Baseballmützen, roher Leber und importiertem Gurkensalat zugleich.

Linda wirft einen Blick in den Hangar, zuckt resignierend mit den Schultern. Also auch kein Flug nach Kulusuk, die kleine, der Küste vorgelagerte Insel. Das Tor zur Welt. Dort landet zweimal pro Woche die Dash 7, die Propellermaschine aus Island. Mit frischen Waren aus isländischen Gewächshäusern, auch Äpfeln, Bananen und Joghurt.

Fünfzehn Passagiere aus Ammassalik haben ein Ticket nach Island in der Tasche. Es nützt ihnen nichts, wenn sie den kurzen Weg nach Kulusuk nicht schaffen. Zwei Bewohner stehen vor dem Heliport herum, warten dennoch. Der Wind hat nachgelassen, jetzt hat es zehn Grad über Null. Die Männer lehnen an der schwarzen Türe des Hangars und rauchen.

Eine Frau schlurft vorbei. Sie trägt Kamiken, die traditionellen Schuhe aus Seehundsfell. Sie ist alt, vielleicht hat sie das Leder dafür noch traditionell bearbeitet, das heißt mit den Zähnen weichgekaut. Für das Gehen im Schnee gibt es kaum besseres Schuhwerk, für die Teerstraßen vor dem Heliport ist es ziemlich ungeeignet.

Frühlingserwachen

Im Ort hängen sie jetzt die Betten aus den Fenstern, Kinder toben auf matschigen Schneehaufen. In braunen Bächen rauscht der Winter die Straßen hinaus. Frühling!

Es ist Donnerstag. Die Mechaniker treffen gegen neun Uhr ein, bis zwei haben sie in der Nacht zuvor gearbeitet. Ohne sichtbaren Erfolg. Immer weiter bauten sie den Helikopter auseinander, immer mehr Probleme traten auf. Der Pilot langweilt sich, draußen ist es ruhig.

Draußen, das ist der Ortsrand von Ammassalik, diese paar hundert bunten Häuser, die aus der Luft aussehen wie hingewürfelt in die Landschaft. Draußen, das ist aber vor allem das verführerische Nichts einer weißen Wüste. Schon hinter der nächsten Hügelkette gibt es nur noch Weite und nie zuvor erlebte Stille.

Es ist Freitag. Ein Ersatzhubschrauber von der Westküste landet. Pausenlos fliegt der dänische Pilot Sermiligaaq–Ammassalik–Kulusuk–Ammassalik–Tiniteqilaaq–Ammassalik. „YoYo“, sagt er. Die Mechaniker bauen ihren Hubschrauber notdürftig zusammen. Er wird fliegen, ohne Passagiere, in die Werkstatt nach Nuuk, der Hauptstadt an der Ostküste. Bepackt mit Treibstoff, Mechanikern und Ersatzteilen.

Es ist Samstag. Der Helikopter hebt ab, unter Schwierigkeiten. Fast streift er die Fischtrockengestelle, an denen schon seit Jahren nichts mehr hängt. Er ist zu schwer. Schließlich hebt er sich doch noch über den Sömansfjeld, den Hausberg. Mogens verabschiedet sich per Funk.

Ein traumhafter Flug liegt vor ihm. Unter ihm verschwinden die Häuser Ammassaliks, stundenlang wird sich nun dasselbe Bild bieten. Immer gleiche Elemente, immer wieder neu zusammengesetzt wie Blicke durch ein Kaleidoskop: haushohe Eisberge links, blau gleißend, und das Meer, mal offen, mal umgürtet vom Packeis. Unter ihm die Küstenlinie, ausgefranst von den Brechern der arktischen See, markiert von den schwarzen Gipfeln der Nunataks – der „Berge, die aus dem Eis ragen“. Und rechter Hand weites Weiß, die unendliche Ebene des Inlandeises. Kalallit Nunaat, „Land der Menschen“, nennen die Inuit ihre Heimat. Dabei sieht gerade dieses Land so aus, als könnte dort niemand leben. (Der Standard, Printausgabe, 1997)