Favoriten bleiben im Interessendickicht oft auf der Strecke. Bis 2000 und zum Vertrag von Nizza war die Kür von EU-Kommissionspräsidenten allein der strengen formalen Voraussetzungen wegen eine mühsame Angelegenheit: Einstimmigkeit war Bedingung.

Wenn nur einer der Regierungschefs sein Veto gegen einen Kandidaten vorbrachte, mussten neue Namen auf den Tisch. Daran ist Ruud Lubbers, der frühere niederländische Ministerpräsident, im Sommer 1994 zerschellt. Er war Favorit - bis der deutsche Kanzler Helmut Kohl, ausgerechnet ein Parteifreund des Niederländers, in Korfu sein Nein deponierte. Kohl hatte ihm die Skepsis gegenüber der deutschen Wiedervereinigung nie verziehen.

Daraufhin sollte es der Belgier Jean-Luc Dehaene werden. Gegen den aber warf sich der britische Premierminister in die Schlacht, weil er ihm zu integrationsfreundlich erschien. So gewann am Ende ein Außenseiter: der farblose Luxemburger Jacques Santer.

Ganz anders, ruck, zuck, verlief die Chefkür 1999. Santer und seine Kommission waren gerade zum Rücktritt gezwungen worden. Wenige Wochen später trafen sich die Regierungschefs in Berlin, und der deutsche Kanzler Gerhard Schröder konnte bereits 45 Minuten nach Beginn des Gipfels den Namen des Neuen verkünden: Romano Prodi, der italienische Ministerpräsident. Er galt den elf sozialdemokratischen Regierungschefs als Linksliberaler. Die Konservativen betrachteten den gläubigen Katholiken als einen der Ihren.

Dabei hatte Prodi Glück. Hätte nicht dringender Handlungsbedarf bestanden, wäre wohl der Spanier Javier Solana, ein Sozialist, EU-Kommissionschef geworden. Der war damals aber gerade Nato-Generalsekretär und unabkömmlich: Denn die Nato hatte - am ersten Tag des Berliner EU-Gipfels - den Luftkrieg gegen Jugoslawien begonnen.

Auch diesmal ist bis zum Schluss offen, wer aus dem Präsidentenpoker als Joker hervorgeht. Ist doch das Anforderungsprofil eher vage: Nach dem Linken Prodi soll es ein Konservativer aus einem kleinen Land sein. Zusatzwunsch: Er soll Erfahrung als Regierungschef haben.

Bertie Ahern, der irische EU-Ratspräsident, tourt seit Wochen durch die europäischen Hauptstädte. Ein eindeutiger Favorit hat sich bisher allerdings nicht gefunden - nur ein Favorit im Konjunktiv. "Alle wollten Jean-Claude Juncker", pries Ahern seinen Lieblingskandidaten, den Premier Luxemburgs - der allerdings ein schweres Handicap hat: Er hat für Prodis Nachfolge mehrmals abgewunken. Manche wollen dieses wiederholte Nein nicht hören oder nicht glauben. "Fast permanent", so ein Diplomat, gebe es Versuche, Juncker noch zu überreden (siehe unten). Falls er es doch nicht macht, gilt Guy Verhofstadt, Belgiens Ministerpräsident, als Favorit.

Überraschung möglich Verhofstadt wirkt mit seiner runden Brille ein bisschen wie Harry Potters älterer Bruder. Als großer Integrator hat sich der Liberale nicht hervorgetan: Die USA-freundlichen Staaten haben ihm nicht verziehen, dass er die Irakkriegsgegner Deutschland, Frankreich und Luxemburg im April 2003 einlud. Ein weiteres Handicap: Als Liberaler hat er bei den größten Fraktionen im Europaparlament, Konservativen und Sozialisten, kaum Unterstützung.

Diese Hürde wäre für Chris Patten weniger das Problem. Der britische Konservative ist Tony Blair allemal lieber als Verhofstadt - zumal Blair Patten zutraut, das britische Verfassungsreferendum positiv beeinflussen zu können. Andere Diplomaten wetten, dass Blair den liberalen dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen unterstützt. Allerdings gibt es auch Spekulationen, dass Blair mit Spanien einen anderen Kandidaten favorisiert: Javier Solana. Er war eigentlich als EU-Außenminister im Gespräch.

Außenseiterchancen hat der portugiesische Kommissar für Inneres, Antonio Vitorino. Sein Haupthandicap: Er ist Sozialist, die Mehrheit der Regierungschefs ist konservativ. Dieses Manko hätte Österreichs Kanzler Wolfgang Schüssel nicht. Allerdings trägt ihm Frankreich nach wie vor Schwarz-Blau nach. Schüssel selbst sagt: "Ich habe kein Angebot." Das österreichische Gegenstück: Agrarkommissar Franz Fischler, der gegen Schwarz-Blau war.

Aber alles ist möglich. Auch ein Überraschungskandidat in letzter Minute: Bertie Ahern selbst. Oder Jean-Luc Dehaene - der vor zehn Jahren schon einmal gescheitert ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.6.2004)