Benjamin v. Stuckrad-Barre
Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2
€ 13,30
485 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004

Zu diesem Mann entwickelt man schnell ein, wie man so schön sagt, ambivalentes Verhältnis. Einerseits wäre da ein wirklich origineller Feuilletonist, ein Autor, der Begegnungen mit dem und im deutschen Alltag nicht scheut, die allzu gern dem boulevardesken "Mainstream" überlassen werden (Benefiz mit Günter Jauch, Mittagessen mit Paola & Kurt Felix, Hosenkaufen mit Claus Peymann) - also wirklich allerbestes Material für jedes "Stadtleben"-Ressort oder Wochenend-Magazin. Andererseits sieht sich Benjamin von - oder richtiger: v. (weil bemüht reduzierter Dünkel) - Stuckrad-Barre alles andere als "alltäglich".

Eigentlich ist ihm fast alles wichtig, wo er irgendwie dabei war, vielleicht gerade eben, weil er dabei war. Selbst wenn er sich in Erlebnisprosa über Lesungen bei "Rock am Ring" als "Popliteraten" sanft denunziert, lässt er doch immer offen, ob er denn nicht wirklich ein "Popliterat" oder vielleicht sogar Popstar sein könnte.

Dazu gibt's dann bei Beckmann, Kerner und Co. Talk-Geständnisse über überstandene Anorexie, Bulimie, Alkohol- und Kokainsucht. Kurz: ein veritables Truman-Capote-Syndrom, aber eben nicht mit literarischen Meisterwerken wie In Cold Blood in der Hinterhand, sondern eher mit Bekenntnissen eines Oasis-Fans (Soloalbum), der auch mit Herbert Grönemeyer oder den Söhnen Mannheims etwas anfangen kann. Dazwischen dann immer wieder Grüße an Freunde und Vorbilder wie Schlingensief und Rainald Goetz (an dessen Prosa Stuckrad-Barre auch nicht annähernd herankommt, auch wenn er Abfall von allen probiert). Wenn sich dann jemand belustigt über diese Selbstinszenierung äußert, ist der junge Dandy gekränkt und will im Suff von Udo Lindenberg gerettet werden.

Remix 2, die jüngste Artikel- und Notizensammlung Stuckrad-Barres, veredelt mit dem wirklich schönen Titel Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft, dokumentiert nun auf durchaus pragmatische Weise, was der Autor kann und wo er sich zu wichtig nimmt.

Für eine impressionische Glosse wie Herbst in Berlin würde man ihm sofort ungeschaut einen Alfred-Kerr-Preis verleihen: "Mensch sein - auch nicht immer schön." Glanzstücke: Die oben genannte "Begegnung" mit dem öffentlichen Ehepaar Felix oder ein Porträt der Schauspielerin Nicolette Krebitz. Textmontagen zu Reinhard Meys "Gartennazi"-Affäre hingegen laden von Beginn an dazu ein, flott überblättert zu werden - was leider auch für das überlange Schlusskonvolut Ich war hier zutrifft: Die Idee nachzuprüfen, wo der Mensch sein "Ich" überall ablaicht - vom Gästebuch bis zum Graffiti - ist an und für sich gut. Nur hätte das, weniger Eitelkeit und mehr Skepsis gegenüber dem angesammelten Material vorausgesetzt, bestenfalls ein längeres Essay anstelle der hier ausgebreiteten 170 Seiten ergeben. Im Endeffekt war halt vor allem der Autor "hier". Er juchzt: "Ich!" Lange Zeit galt Benjamin v. Stuckrad-Barre als eine der Galionsfiguren für eine neue hippe deutsche Generation-Golf-Literatur. Mittlerweile möchte man ihn eher als symptomatische Gestalt der deutschen Medienrealität begreifen. Zuerst gigantischer Boom (auch rund um die neue Hauptstadt): Was sind wir doch alle plötzlich großstädtisch und international und Pop und überhaupt! Worauf dann sehr schnell Katzenjammer folgte; Auszehrung, Anorexie; das vermeintliche El Dorado entpuppt sich als waste land - und jetzt sagen sich halt Leute wie Stuckrad-Barre frei nach Achternbusch: Das alles hier hat uns kaputt gemacht - und jetzt machen wir so lange weiter, bis man das auch merkt. Für diesen Zustand des Abwartens und Aussitzens ist Remix 2 ein adäquates Dokument, wenn auch nur bedingt lesenswert. (DER STANDARD, Printausgabe vom 19./20.6.2004)