Wenedikt Jerofejew
Aufzeichnungen eines Psychopathen
Aus dem Russischen von Thomas Reschke
€17,90
191 Seiten
Tropen Verlag, Köln, 2004

Foto: Buchcover

Sein Ende der 60er-Jahre entstandenes Poem Die Reise nach Petuschki zählt zu den wahnwitzigsten und komischsten Zeugnissen der russischen Literatur. Die wodkagetränkte, himmelhochjauchzende wie zu Tode betrübte Höllenfahrt in einem Regionalzug von Moskau in das Delirium eines finalen Rausches im gelobten Land von Petuschki, dort, wo Frau und Kind wohnen und man nicht trinken muss, um seinen Jammer zu vergessen, diese promillegetränkte Wallfahrt gilt gleichzeitig auch als erschütterndes und bedrückendes Dokument alkoholischer Exzesse. Sie begleiteten Wenedikt Jerofejew bis zu seinem Tod 1990 schon von Jugend an auch persönlich; und sie machen eine Unterscheidung bezüglich Autor und Autorenstimme auch dank zahlloser mit Russland verbundener manisch-depressiver Säuferklischees in der Rezeption schwer: Wann schreibt Wenedikt - und wann schreibt es ihn?

Wie kaum ein anderer Schriftsteller der Weltliteratur machte Wenedikt Jerofejew den Rausch nicht nur zum zentralen Thema einer ab- und ausschweifenden Dichtung. Er wählte den damit verbundenen Kontrollverlust, die Euphorie, die Verweigerung von Schranken wie Warnsignalen und die darauf folgende tiefe Depression zum Arbeitsprinzip. Im Prinzip. Immerhin gilt der schwere Trinker nicht umsonst stets auch als großer Lügner. So einer muss sich die Frage stellen lassen, ob aus ihm der Geist und nicht doch der Weingeist spricht.

Um dem Biografischen Genüge zu tun: Jerofejew begann diese jetzt erstmals auf Deutsch vorliegenden, über einen Zeitraum von gut einem Jahr entstandenen "Tagebücher" Ende 1956 zu schreiben. Sein ebenfalls trunksüchtiger Vater war gerade nach mehreren Jahren Arbeitslager gestorben, und Jerofejew wurde wegen "Bummelei" und Suff und "Vernachlässigung der Militärausbildung" nicht nur von der Moskauer Hochschule "entfernt". Er wurde deswegen auch aus seiner Moskauer Wohnung geworfen. Er verlor weiters die Aufenthaltsgenehmigung in der Hauptstadt und musste zurück in seine Heimat, die unwirtliche Industriestadt Kirowsk, wo er sich fortan in Hilfsarbeiterberufen wie Packer oder Kabelverleger der Kultivierung einer schweren Abhängigkeit widmete, die ihm die Krankheit zum Tode wurde. Dann kam auch noch sein Bruder in einem Lager um.

Mit diesem Wissen ausgestattet lässt sich nicht nur Jerofejews während seiner Verbannung zum Eisenbahnbau nach Sibirien entstandene Reise nach Petuschki besser verstehen. In der erhebt er die alkoholgetränkte Ausradierung der Seelenpein als Mittel zum Zweck und springt mit wildem Furor zwischen geifernden, selbstdestruktiven Hasstiraden, hochkomischen Betrachtungen über Gott und die Welt und den dazu nötigen Mengen Wodka, beinahe zärtlichen lyrischen Passagen der Selbstreflexion und brutalen Gossendialogen hin und her, als würde es kein Aspirin C geben.

Auch die gut zehn Jahre zuvor entstandenen Tagebücher, ein Ausriss aus bis zu seinem Tod an die 2500 Seiten bis heute ungesichteten Betrachtungen über Themen wie Geschlechtsverkehr mit Andersdenkenden, eine kleine Typologie der Wochentage, die "Masturbation der Leiden" oder über die Unmöglichkeit, mit dem Schlagen seines Kopfes gegen die Kremlmauer damit auch nur einen einzigen Tropfen gesunden Menschenverstandes herauszubekommen, sind dazu angetan, uns ein Bild des Dichters als asoziale Wildsau zu vermitteln. Das mag alles recht anstrengend zu lesen sein und macht beim Lesen einen Kater: "Aber verrrdammt, wenn ich schlafe - wozu soll ich dann meinen Verstand anstrengen und das Genie spielen? Letzten Endes wird es ewig ein Geheimnis bleiben, ob ich im Schlaf Weltwahrheiten ausgesprochen oder nur gottlos mit Worten geklingelt habe!" Das Leben, eine Ermessensfrage: "Fühlen muss man klug, nicht mit dem Kopf, aber klug." (DER STANDARD, Printausgabe vom 19./20.6.2004)